WM 2010: Presseschau:Die Spargelbeine des jungen Müller

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Die Presseschau "Indirekter Freistoss" widmet sich heute der Anatomie des Gerd-Müller-Nachfolgers, uninspirierten Holländern, ausgehungerten Fans und den Prämien der Fifa.

Indirekter Freistoss ist die Presseschau für den kritischen Fußballfreund. Fast täglich sammelt, zitiert und kommentiert der Indirekte Freistoss die schönsten und wichtigsten Textausschnitte und Meinungen aus der deutschen, während der WM auch aus der internationalen Presse. Täglich auf sueddeutsche.de und www.indirekter-freistoss.de .

André Görke (Tagesspiegel) findet klare Worte für den öden Auftritt der hochgehandelten Holländer: "Die Herrschaften in Orange und Weiß schoben sich in der ersten Halbzeit den Ball so lange uninspiriert zu, bis sich irgendeiner finden ließ, der das Arbeitsgerät hinter die Seitenauslinie drosch oder sich in den Beinen des Gegners verhedderte." Die zweite Hälfte sei dann ein wenig besser gewesen, allerdings auch unter gütiger Mithilfe der Dänen: "Auch das 1:0 kurz nach der Halbzeit war reines Glück. Gut eine Minute war gespielt, da flog eine Flanke in den dänischen Strafraum und direkt auf den Kopf von Simon Poulsen. Der Mann verlor ein bisschen die Orientierung, torkelte durch den Strafraum, köpfte den Ball immerhin - allerdings unglücklich an den Rücken seines Kollegen Daniel Agger vom FC Liverpool. Und von dort hoppelte er weiter an den Innenpfosten und ins dänische Tor. Kurios das Tor, keine Frage - aber schön?"

Auch Jeffrey Marcus (New York Times) zeigt sich enttäuscht: "Die Holländer gewannen 2:0, doch ihre Fans im Stadion bekamen nicht den erhofften "Voetbal total" zu sehen. Dazu braucht es definitiv mehr, als das was die Holländer gegen Dänemark zeigten." Dennoch gab es für die biedere Vorstellung drei Punkte. "Das ist nicht der gewöhnliche Weg der Holländer. Normalerweise sind sie dafür bekannt attraktiven Angriffsfußball zu zeigen, der jedoch allzu oft nicht von Erfolg gekrönt ist. Diesen Vorwurf müssen sie sich diesmal nicht gefallen lassen."

Pressestimmen zum 4:0
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Titelverteidiger Italien konnte beim mühsamen 1:1 gegen Paraguay seiner Favoritenrolle nicht gerecht werden. Ricardo Pratesi (La Gazetta dello Sport) sah bei der Squadra Azzurra Licht und Schatten: "De Rossi krönte seine gute Leistung mit einem Tor, allerdings nach einem Torwartfehler. Montolivo spielte auch gut und zeigte, dass er Pirlo vertreten kann. Auf der anderen Seite steht die unglückliche Leistung der Angreifer. Bei einem Team das Weltmeister werden will, sollte wenigsten ein Stürmer treffen. Die Verletzung Buffons wiegt ebenfalls schwer."

Für die paraguayanische Online-Zeitung ultimahora.comist das Remis zum Auftakt gegen den amtierenden Weltmeister "ein großer Erfolg." Dennoch bleibe ein kleiner Wermutstropfen, denn die Sensation habe in der Luft gelegen: "Auch wenn die Italiener mit einer anderer Einstellung in die zweite Hälfte gingen, so waren sie doch schlagbar. Paraguay spielte nicht schlecht, doch die 'Squadra Azzurra' kam durch einen Fehler von Justo Villar beim Herauslaufen schließlich zum etwas schmeichelhaften Ausgleich durch de Rossi."

Das Spiel Kamerun gegen Japan war die große Enttäuschung des Spieltages. Besonders die Afrikaner hätten so gut wie alles vermissen lassen. Andrea Böhm (Zeit Online) sucht Worte: "Mein Gott, Kamerun! Was war los? Lag's am südafrikanischen Essen? Am Rasen? An den Nerven? War der Ball zu schnell, die Luft zu dünn? Wisst Ihr, wie schlecht man spielen muss, um der fleischgewordenen Indignation namens Günter Netzer einen noch missmutigeren Gesichtsausdruck abzunötigen, als er ohnehin schon an den Tag legt?" Die Antwort sei dann doch recht einfach: "So schlecht habt ihr gespielt."

Jan Christian Müller (FR) beschreibt Thomas Müller als einen schwer zu fassenden Spielertypen: "Seine Methoden sind weitgehend beispiellos: Er besitzt die Intuition und den Mut, an der Strafraumgrenze nie anzuhalten, sondern den Pfad zum Tor zu suchen und regelmäßig auch zu finden." Auch im Vergleich mit Gerd Müller komme er gut weg: "Manches am Bewegungsablauf erinnerte bei Müllers Treffer in Durban an die Müllerei vor 36 Jahren zum 2:1 im WM-Finale gegen die Niederlande. Mit seinem ehemaligen Jugendtrainer Gerd Müller hat der früh verheiratete Irrwisch mit dem angeborenen Mutterwitz ansonsten aber so gut wie nichts gemein. Die Spargelbeine zum Beispiel, die eher ins X denn ins Fußballer-typische O tendieren, unterscheiden den sehnigen Müller junior von dem oberschenkelmuskelstarrenden Müller senior. Ergo kann der Junge, anders als der Alte, Abwehrreihen mit langgezogenen Sprints auseinanderreißen. Seine Laufwege werden von Gegenspielern als wenig konventionell begriffen."

Der 4:0-Erfolg ließ nicht nur etliche Kritiker verstummen, sondern auch den DFB-Präsidenten auf Schmusekurs gehen. Für Michael Ashelm (FAZ) ein nachzuvollziehender Schritt von Theo Zwanziger: "Zwanzigers Vorstoß kam in seiner Stärke zwar unvermittelt, zeigt allerdings eine gewisse Logik auf. Jeder weitere glanzvolle Sieg Löws und seines Teams bringt die Verbandsverantwortlichen in Erklärungsnot, warum aktuelles Trainerteam und Management noch keinen neuen Vertrag haben. Gewinnt Löw weiterhin, hält er die Schlüssel in der Hand."

Eine taktische Analyse des Spiels gegen Australien liefert die englische Internetseite Zonal Marking. Aufgrund der schwachen Vorstellung der Australier bleiben bei der Einschätzung des deutschen Spiels jedoch ein paar Fragezeichen: "Es ist schwierig, die deutsche Leistung eindeutig zu beurteilen, da die Australier sowohl taktisch als auch technisch viel vermissen ließen. Aber das Team von Jogi Löw sah sehr gut aus. Die Deutschen gaben zu jeder Zeit das Tempo vor. Sie wussten, wann sie den Ball im Mittelfeld verwalten konnten und wann sie ihn schnell und direkt nach vorne spielen mussten. Das beeindruckenste war jedoch, dass alle Spieler auf einer Wellenlänge waren, obwohl die Mannschaft noch nicht lange zusammenspielt."

Im Gespräch mit Oliver Kahn kommentierte ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein das Tor von Miroslav Klose zum 2:0 wie folgt: "Das ist für Miro Klose doch ein innerer Reichsparteitag, jetzt mal ganz im Ernst, dass der heute trifft." Sofort nach der Aussage schwappte eine Welle der Empörung durch die Internetkanäle Twitter und Facebook. Tilman Krause (Welt Online) rückt die Redewendung aus dem rechten Licht: "Ein innerer Reichsparteitag' - das ist nicht Nazi-Sprache. Das ist vielmehr gerade die Persiflierung des bombastischen Nazi-Jargons, wie er im Dritten Reich gang und gäbe war. Das ist, wie man damals gesagt hätte, Berliner Mutterwitz, frech, respektlos, nicht ohne Anteile von Zynismus." Letztendlich sei der Gebrauch der Redewendung nicht ganz glücklich, aber zu verzeihen: "Hier geht es um sprachhistorische Feinheiten, deren Kenntnis man vielleicht von einer Sportjournalistin, die unter immensem Druck vor einem Millionenpublikum agiert, nicht erwarten kann. Umso mehr sollten diejenigen, die sich jetzt über sie erhaben dünken, vor Scham erröten, dass sie Distanz und Ironie, die im Ausdruck vom "inneren Reichsparteitag" wohnen, glatt übersehen haben."

Auch Brian Hayward, Gareth Wilson und Luyolo Mkentane (The Herald) gehen auf die Probleme rund um die leeren Sitzplätze in den Stadien ein, beschreiben darüber hinaus jedoch auch einige Hindernisse, die die Fans auf ihrem Weg in die Stadien überwinden müssten. Ein Fan, der mit seiner Familie vom Fan Fest zum Spiel gelangen wollte, habe so versucht mit einem der offiziellen Spielort-Busse zu fahren. "Doch nachdem er zehn Helfer gefragt hatte, von denen niemand wusste, wohin er gehen sollte, fand er vierzehn Busse in der Rink Street, deren Fahrer ihm ebenfalls nicht den richtigen Bus zum Stadion nennen konnten." Nachdem der Fan dann doch noch am Stadion angekommen sei, habe dort schon das nächste Problem auf ihn gewartet. "Dank des Streiks der Speise- und Getränkelieferanten, der erst zum Anstoss um 13:30 Uhr beendet wurde, mussten mehrere Tausend Fans nach der Ankunft am Stadion erst einmal hungern." Positiv werden dagegen die Bemühungen um die Sicherheit angesehen. Beim Spiel der Griechen gegen Südkorea sei so das schlimmste Verbrechen der Raub einer Handtasche eines weiblichen koreanischen Fans gewesen. Kein Wunder, wenn man sich die Sicherheitsmaßnahmen genauer anschaue: "Das verdankt man zu großem Teil der, in dieser Anzahl, beispiellosen Ansammlung von Sicherheitskräften in der letzten Woche, die seit Freitag auch von Beamten von Interpol verstärkt worden sind."

Nicht nur der Fifa und ihren Funktionären geht es bei der WM neben dem eigentlichen Sport auch um eine Menge Geld. Elijah Moholola von der südafrikanischen City Press interessiert sich für die Prämienzahlungen, welche die Spieler der südafrikanischen Nationalmannschaft während der WM beziehen. "Es hat sich als eine Art Mission für die Medien herausgestellt, die Auflauf- und Siegprämien und sonstigen Bonuszahlungen aller Spieler der Bafana Bafana, die die 44 Millionen Südafrikaner bei dieser Weltmeisterschaft vertreten, aufzudecken." In anderen Nationen sei es üblich, die Gehälter und Prämien vor Beginn der WM zu veröffentlichen. Nicht nur die Medien würden sich für die genauen Zahlen interessieren, auch die breite südafrikanische Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, zu erfahren, was ihre Repräsentanten verdienen. "Es ist immer noch das Nationalteam und keine Privatmannschaft."

Presseschau zusammengestellt von Jens Behler und Marc Vits, aus dem Spanischen übersetzt von Philipp Schmitt, aus dem Italienischen von Luciano Lago.

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