Winterspiele 2006:Im Mosaik der kleinen Löcher

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Im Februar finden die olympischen Winterspiele in Turin statt. Doch noch gibt es viel zu tun. Durch die Eishalle weht der Baustaub. Trotzdem eilen die Turiner Olympia-Manager mit viel Charme und Zweckoptimismus durch die letzten Wochen.

René Hofmann

Langsam wird es ungemütlich. Für die Tauben. Der Winter zieht heran, und nirgendwo gibt es ein sicheres Plätzchen. Überall Presslufthämmer, Gerüste, Staub. Am Flughafen, am Bahnhof, an der Piazza Castello. Vor allem an der Piazza Castello. Sie wird im Mittelpunkt der Olympischen Spiele stehen. Dort, mitten in Turin, soll ihr Herz schlagen. 55 Goldmedaillen werden dort verliehen, in einer pompösen Show, vor der prächtigen Kulisse der prunkvollen Gebäude, in denen feine Couturiers ihre Waren feilbieten. Dolce Vita vor Dolce & Gabbana.

Ein Schneeball und ein Eiswürfel: Neve und Gliz sind die Maskottchen der Olympischen Winterspiele 2006 in Turin. (Foto: Foto: afp)

Kein Zweifel, diesen Spielen wird man ansehen, wo sie stattfinden. Das Piazza-Motiv soll die XX. Olympischen Winterspiele prägen. Auch in den Bergen, bei den Skifahrern, Biathleten und Bobfahrern, wird es zu sehen sein. Auf jeder Bande werden die Bögen des Turiner Wahrzeichens in grellen Farben prangen. Die Idee soll auch auf den Fernsehschirmen am anderen Ende der Welt ankommen. Im Moment schimmert sie nur durch den Baustaub. Die Piazza wird gepflastert. Ein paar hundert Meter weiter steht eine Uhr, die rückwärts läuft. Nicht mal 80 Tage noch.

"Eine Kirsche auf dem Kuchen"

Giuseppe Gattino, der Sprecher des Turiner Olympia-Organisationskomitees Toroc, hat viel zu tun. Ständig empfängt er besorgte Besucher. Viele wollen wissen: Steht das olympische Dorf? Laufen die Lifte? Fährt die U-Bahn? Vor jeden Spielen häufen sich Horror-Meldungen, Bauarbeiter sind im Verzug, Geld fehlt. Auch Turin hat diese Probleme.

Zehn U-Bahn-Linien sind geplant. Bis zur Eröffnungsfeier am 10. Februar werden vielleicht zwei fertig. Der Eiskanal musste noch einmal umgebaut werden, weil eine Kurve für die Rodler zu schwierig war. 30 Millionen Euro fehlen, und im Parlament in Rom tobt eine Debatte, ob Dopingsünder während der Spiele strafrechtlich verfolgt werden sollen, wie das im Land seit einigen Jahren üblich ist, oder nicht, wie es das IOC wünscht.

Gattino bittet zum Gespräch ins Atrium. Eine großzügige Konstruktion aus wenig Holz und viel Glas an der Via Pietro Micca. Am Springbrunnen vor der Tür wird noch gebaut. Aber drinnen ist es licht und leise. In Gattinos feinem Englisch fehlt ab und zu ein Wort. Aber das macht nichts. Im Gegenteil. Es unterstreicht sogar, was er zu sagen hat. "Ja, uns fehlen 30 Millionen Euro", sagt er, "aber bei unserem Gesamtbudget ist das", er überlegt kurz, "eine Kirsche auf dem Kuchen." Ob von der Regierung in Rom, der Region oder dem IOC, irgendwo wird das Geld schon herkommen.

Noch keine Lösung im Dopingstreit

Der Dopingstreit mit dem IOC? "Ja, den gibt es", sagt Gattino, "es ist unwahrscheinlich, dass das Gesetz noch einmal geändert wird. Das IOC hat gewusst, worauf es sich einlässt." Vielleicht wird das Gesetz per Dekret ausgesetzt, vielleicht das olympische Dorf zum exterritorialen Gebiet erklärt, oder die eifrigsten Staatsanwälte werden einfach für drei Wochen in Urlaub geschickt. Regierungschef Silvio Berlusconi ist eingeschaltet. Irgendjemand wird den Streit schon schlichten.

Giuseppe Gattino ist ein geschickter Gesandter der Gastgeber. Selbstbewusst und aufrichtig. Zu Neve und Gliz zum Beispiel fällt ihm auch nicht viel ein. Schneeflöckchen und Eiswürfel sind die Maskottchen der Spiele. Sie sind ähnlich plump geraten wie das Duo Goleo und Pille, das Lust auf die Fußball-WM in Deutschland wecken soll.

Bei Neve und Gliz ist das allerdings noch ärgerlicher, weil sie so gar nicht in das ansonsten ausgesprochen hübsche Grafikkonzept der Spiele passen. Die beiden erinnern an die roten Fräuleins und blauen Männchen, die in Turin auf vielen Toilettentüren zu sehen sind, was die Frage nahe legt, ob sich nicht vielleicht doch besser jemand der Sache angenommen hätte, der sich ein wenig besser mit Schnee und Eis auskennt. Entworfen hat die beiden ein portugiesischer Designer. Aber immerhin: "Den Kindern gefallen sie", sagt Giuseppe Gattino und bietet an, die eigene Tochter als Zeugin vorzuführen.

Alessandro De Leonardis lässt die Verwandten aus dem Spiel. Aber er ist bereit, den Hintern für die Spiele hinzuhalten. Der kahlköpfige Enddreißiger wartet vor dem Tor zum Palavela. Hinter ihm stehen zwei Soldaten Wache. Ihre Gewehre tragen sie gelangweilt, aber demonstrativ über die Schultern gehängt. Weit und breit kein Terrorist in Sicht, aber man weiß ja nie.

In der Zentrale des Organisationskomitees laufen die letzten Vorbereitungen für die Winterspiele. (Foto: Foto: afp)

Im Palavela wird am 16. Februar einer der Höhepunkte der Spiele steigen - das Finale der Eiskunstläufer. Die Eisartisten, ihre gewagten Kostüme, viereinhalb Minuten, in denen Athletik und Artistik zu wundervoller Musik verschmelzen, die Betrügereien - bei den Kunstläufern ist immer viel geboten. Alessandro De Leonardis weiß, dass sich auf sein Werk viele Blicke richten werden. Doch er ist ein gelassener Sportstätten-Manager.

Angst vor dem Baustaub

Immerhin hat er eine Sportstätte. In der Halle, in der Eishockey gespielt werden soll, wurde das Eis bei einem Test so weich, dass nun noch einmal die Eismaschinen getauscht werden. Bei den Eisschnellläufern grassiert die Angst vor Baustaub. Aber das Palavela steht, und so kann Alessandro De Leonardis stolz von der Tribüne aus auf sein Reich zeigen und erklären, wie das Eis minus acht Grad kalt und vier Millimeter dick werden soll. Einen Probelauf hat es schon gegeben, die EM im vorigen Winter. Das größte Problem dabei: "Wir mussten einige Mehrfachstecker nachkaufen", sagt Leonardis.

Gerade sind seine Angestellten in der Arena dabei zu probieren, wie schnell sich das Eiskunstlaufoval in einen Spielplatz für Short Track verwandeln lässt. Die Halle ist renoviert. Alles wirkt neu, vieles glänzt. Achttausend Metallsitze hat der Architekt auf die Betontribünen schrauben lassen. Ihr Silber reflektiert das Licht der Deckenfluter. "Sieht toll aus, nicht wahr", sagt Alessandro De Leonardis. Aber ob es darauf - so nah am Eis - nicht schrecklich kalt wird? "Nein, nein", ruft Leonardis und lässt sich auf einen der Sitze fallen: "Kommen sie, probieren sie selbst!" Es dauert ein paar Minuten, bis die Kälte durch den Stoff dringt. "Sehen sie. Kein Problem", sagt Alessandro De Leonardis. Und strahlt. Ob er weiß, dass die Entscheidung im Kürlauf viereinhalb Stunden dauert?

Geschrieben wird das Drehbuch für die Spiele an der Corso Novara, in einem unscheinbaren neunstöckigen Gebäude, das leer stand, bevor das Organisationskomitee Toroc einzog. Neve und Gliz grüßen gegenüber von einer riesigen Plakatwand hinter der sich eine weitere Industriebrache verbirgt. Die Olympischen Spiele helfen, Turin aufzuhübschen; bis der Wandel weg von der Industrie-Stadt tatsächlich geschafft ist, wird es aber eine Weile dauern.

Neve und Gliz grüßen von der Wand

Die Zentrale hat wenig von dem Glanz des Atriums und der Eleganz des Palavela. Es ist eine Olympiawerkstatt. Linoleum-Boden, graue Wände, Stechuhren, Kantinenpläne. Auf einer Etage sitzen die Zuständigen fürs Marketing, auf einer anderen die für die Sponsoren, auf der nächsten geht es um Unterkünfte, darüber um Transport. Es wird versucht, die vielen kleinen Teile des gigantischen Sportfestes zu einem hübschen Mosaik zusammenzusetzen.

In einem der höher gelegenen Stockwerke steht Frédéric Wojciechowski vor einem Schaubild. Der Franzose muss schauen, dass der Datenfluss nie stockt. Ergebnisse, Akkreditierungen, Informationen für die Kommentatoren und die Agenturen - bei den Sommerspielen 2004 in Athen wurden mehr als 60 Millionen Seiten gedruckt. Wenn die Spiele beginnen, wird die Abteilung fast 100 Mitarbeiter haben.

Die Zentrale wird jeden Tag rund um die Uhr besetzt sein. Es ist ein beliebiges Beispiel, aber es zeigt, welcher Aufwand hinter den Spielen steckt. Alles, was ein Athlet vorher leistet, muss erfasst werden. Wer für welches Land in welcher Disziplin antritt - alle Fernseh-Einblendungen werden vorbereitet. In zwei Formen. Die Statistik-verliebten Amerikaner bekommen mehr geboten als der Rest der Welt. "Die Technik wird hier erst einmal aufgebaut und getestet, bevor sie in die Wettkampfstätten gebracht wird", sagt Wojciechowski.

Eine ganz neue Technologie

Auf eine Zahl ist er besonders stolz. 300 Millisekunden nachdem es produziert wird, soll jedes Ergebnis auf den Schirmen erscheinen. Ein Wimpernschlag dauert dagegen eine Ewigkeit. 2500 Sportler, 10 000 Journalisten, 20 000 Helfer. Hinter jedem Teil des Mosaiks verbergen sich Myriaden Daten.

Jeder, der kommt, braucht ein Bett und muss irgendwann irgendwo sein. 90 000 Akkreditierungen werden ausgegeben, die gleichzeitig als Visum gelten. Deswegen müssen die Daten geprüft werden. Das Kontrollnetz ist fein, und nicht jeder Faden sichtbar. "Schauen Sie sich das Bild an!", sagt Wojciechowski und zeigt eine Muster-Akkreditierung. An dem Foto ist nichts Auffälliges zu erkennen. Und genau das ist der Trick. Das menschliche Auge sieht es nicht, aber einige Pixel sind so verschoben, dass die Rechner daraus alles lesen können, was auf der Akkreditierung steht. Wie jemand heißt, wo er herkommt, wo er hin darf. Fälschen aussichtslos. "Eine ganz neue Technologie", sagt Frédéric Wojciechowski. Von ihm aus können die Spiele beginnen. Er sieht zufrieden aus. Aber so ganz zu trauen ist bei diesen Spielen ja keinem Gesicht.

© SZ vom 24.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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