Vierschanzentournee:Der Flug des Frisbees

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Anflug im Scheinwerferkegel: Tourneesieger Kamil Stoch in Bischofshofen bei seinem letzten Sprung der diesjährigen Vierschanzentournee. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Punktgenau hat Kamil Stoch sein Sprungsystem wieder perfektioniert. Mit dem dritten Tourneesieg unterstreicht der Pole noch einmal seine Stellung als bester Skispringer seiner Zeit.

Von Volker Kreisl, Bischofshofen

Die Saison eröffnete er mit einem Absturz. Der Wind wehte stark, aber Kamil Stoch, so dachte man, würde schon einen Weg weit nach unten finden. Schließlich fand der erste Weltcup dieser Saison in Wisla, in den Bergen in Polens Südwesten statt, in Stochs Heimat. Doch er verpasste den Absprung, bekam kein Luftkissen unter die Ski, und landete zum Auftakt der Saison auf Platz 27.

Bei vielen Skispringern beginnt damit eine Kette von Selbstzweifeln, manche landen vorübergehend im zweitklassigen Conti-Cup, um sich von der Formkrise zu erholen. Bei Kamil Stoch ist das irgendwie anders, es wirkt, als wäre der Rückschlag der Auftakt zu einem Spiel: Ich bau mir meine Form.

Der Siebenundzwanzigste von Wisla ist nun, sieben Wochen später, der Gewinner der Vierschanzentournee. Damit hat er den Titel zum dritten Mal errungen, nach 2017 und 2018. Noch einmal hat er seine Position im Skispringen untermauert, er ist in seiner Zeit, also den Zehner-Jahren und darüber hinaus der beständigste Skispringer. Seine Krisen sind kurz, sein Sprungsystem ist mode-resistent - Hocke, Absprung, Flug und Landung haben diversen neuen Sprungstilen standgehalten. Seinen ersten großen Sieg holte er 2013 bei der Weltmeisterschaft in Val di Fiemme in Italien, 2014 wurde er in Sotschi Doppel-Olympiasieger, es folgten weitere Groß-Medaillen.

Davor hatte er viele Jahre lang den Bausatz seiner Form zusammengesetzt, der ihm wie allen großen Springern auch mal auseinander fliegt. Und obwohl er den Plan natürlich auswendig kennt und dies schon so oft bewies, zweifelten die Beobachter bei dieser Tournee, ob er immer noch rechtzeitig fertig wird. Zu stark waren der junge Norweger Halvor Egner Granerud und die beiden deutschen Springer auf dem Höhepunkt ihres Schaffens: der Weltcup-Zweite Markus Eisenbichler und der Skiflugweltmeister Karl Geiger.

Stoch ist ein freundlicher Mensch, sich selber gegenüber jedoch gnadenlos

Fortgesetzt wurde der Weltcup Ende November in Ruka in Finnland. Im ersten Springen hatte Stoch gerade mal einen 13. Platz erreicht, im zweiten wurde er zwar Siebter, aber seine Sprünge, noch zu bemüht am Schanzentisch und zu wenig konsequent im Flug, wirkten chancenlos gegenüber den Besten. Vielleicht, dachte man, hat Stoch wieder dieses alte Problem? Denn er ist zwar ein freundlicher Mensch, sich selber gegenüber jedoch gnadenlos. Immerzu ist er auf der Suche nach Verbesserungen, angespannt und hektisch, wie er einst selber sagte. Und auf die Frage, ob er sich denn nicht auch mal zurücklehnen könne bei seinen Olympiasiegen, ob er das Springerleben nicht mal genießen könne, wie es sein damaliger Trainer vorschlug, der heutige deutsche Chefcoach Stefan Horngacher, da antwortete Stoch: "Nein, sicher nicht."

Die Verbissenheit ist seine Schattenseite, und auch etwas längere Tiefs hatte er schon durchgemacht, wie 2016, als er am Ende des Winters nur Gesamt-22. war. Seine Schatten kann man manchmal nicht bekämpfen, und das macht auch nichts, wenn man mit einem guten Trumpf dagegenhalten kann. Stoch sagt: "Für einen Athleten ist der eigene Druck das größte Handicap. Ich aber habe eine gute Waffe, das ist meine Kompetenz: Erfahrung."

Wohl keiner im aktuellen Topspringer-Feld hat derart viel davon wie der 33-Jährige, der seinen Sprung in diesem Frühwinter weiter perfektionierte, obwohl die Polen wegen Corona nicht in Russland antreten durften, weshalb Stochs Startplatz im Dezember immer noch weit hinten lag, obwohl er Fortschritte machte. Doch als die Tournee begann, da brach seine Skisprungwelt zusammen. Wegen eines Corona-Positivtests von Klemens Muranka wurden alle Polen ausgeschlossen. Das entsprach dem Reglement, aber wie soll der Einzelne das verstehen? So viele Trainingssprünge, so viel Hoffnung, und dann ein einziger Positivtest - bei einem Springer?

In Innsbruck hatte Stoch sein Sprungsystem rechtzeitig komplett, so war er kaum noch zu schlagen

Letztlich bedeutete es dann nicht das Aus, sondern die letzte Zündung für Stoch. Das Gesundheitsamt ließ zweimal nachtesten, alle Polen waren negativ, und in Oberstdorf kam Stoch als Zweiter zurück. Nun ging es darum, letzte Fehler auszubügeln, denn noch waren Geiger und Granerud die Favoriten, zumal Stoch auf der zweiten Station in Garmisch-Partenkirchen nur Platz vier erreichte. Dann zog die Tournee weiter nach Innsbruck, auf die Schanze am Bergisel, die mal durch Wind oder Nebel, und mal mit ihrem engen Absprungbereich am liebsten die Träume von Tournee-Führenden zerstört und einem anderen den Thron freimacht, diesmal Kamil Stoch.

Jeder Skispringer hat so seine Art zu fliegen in der Luft, und manche wecken dabei Assoziationen. Severin Freund, Weltmeister von 2015, erinnert mit seinen breit ausgestellten Tragflächen an einen Jumbo Jet im Landeanflug. Den Polen Dawid Kubacki kann man wegen seines hoch aufsteigenden Fluges mit einem Hubschrauber in Verbindung bringen (wohl auch deshalb, weil man weiß, dass Kubacki Modell-Hubschrauber fliegen lässt). Der Österreicher Daniel Huber ist eine Rakete, Ryoyu Kobayashi vielleicht eine Möwe und Stoch eine Frisbee-Scheibe.

Strahlender Sieger: Kamil Stoch präsentiert seinen Pokal. (Foto: GEPA pictures/Christian Walgram/Imago)

In Innsbruck war er am Ziel. Er hatte sein Sprungsystem mal wieder rechtzeitig komplett, und wenn er so weit ist, kann man ihn kaum noch schlagen. Stoch hebt ab, wird immer schneller, weil er sich flach macht und seine Flugkurve hinunterzieht, ruhig und sicher, ohne auch nur mit dem kleinen Finger etwas zu korrigieren - als hätte ihn eine unsichtbare riesige Hand auf seine Bahn geschickt.

Kaum vorstellbar, dass Stoch irgendwann doch mal abgehängt wird. Auch auf der letzten Tourneestation in Bischofshofen zeigte er in keiner Sekunde eine Schwäche und konterte alle Angriffe, weshalb es gut möglich ist, dass er noch ein paar Jahre weiterspringt. Sein Umfeld ist intakt, seine Frau kümmert sich ums Management, die beiden unterhalten eine Skisprung-Schule, die Zukunft ist gesichert. Bleibt noch die Verbissenheit. Aber die nimmt normalerweise im Alter ab, und wenn nicht: Er hat ja Erfahrung.

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