Vierschanzen-Tournee:Ein Genie zum Fürchten

Lesezeit: 4 min

Schon viele Wunderkinder des Skisprungs sind abgestürzt - der 16-jährige Gregor Schlierenzauer scheint dagegen gefeit zu sein.

Thomas Hahn

Als Thomas Morgenstern aus Lieserbrücke in Österreich selbst noch ein Wunderkind war, gab es für ihn nicht viel mehr als die Schanze und den Traum, ein großer Skispringer zu werden. Er war 16, er dachte an nichts Bestimmtes, er sprang eben, und dann ging alles ganz schnell.

Da fliegt ein Wunderkind: Gregor Schlierenzauer. (Foto: Foto: dpa)

"Auf einmal hat's geheißen, ich darf zur Tournee fahren. Und auf einmal waren zehntausend Journalisten da." Zehnter ist er damals geworden, bald darauf gewann er in Liberec seinen ersten Weltcup. Elf Monate später lag er quer in der Luft von Kuusamo und schlug so böse auf, dass die Zuschauer dachten, er breche sich das Genick. Jugendlicher Ungestüm bei gefährlichem Wind, sagten die Experten, das Wunderkind könne nicht Maß halten.

Immer wieder Wunderkinder

Vier Wochen später sprang er, als wäre nichts gewesen. Inzwischen ist er 20, hat eine kleinere Krise hinter sich, seine erste Olympiaprüfung mit zwei Goldmedaillen abgelegt und im Sommer die Matura. Er gehört nun schon im vierten Jahr zu den besten Skispringern der Welt. Thomas Morgenstern ist erwachsen geworden in seinem Sport, und damit hat er das Wichtigste schon geschafft.

In diesen Tagen der Vierschanzentournee ist wieder viel von Wunderkindern die Rede. Und das liegt natürlich an Morgensterns 16-jährigem Landsmann Gregor Schlierenzauer, der zwar auf einem Ohr taub ist, Asthma hat und schlechte Eisenwerte, wie die Schweizer Boulevard-Zeitung Blick recherchiert hat, aber die Gesamtwertung anführt vor dem Schweizer Andreas Küttel.

Das Wort Wunderkind ist dabei ein zweifelhaftes Etikett, "effekthascherisch", wie der österreichische Skisprung-Direktor Toni Innauer findet, und ein Titel, an dem man als Betroffener lieber vorbeihört. "Das bekommt man immer eingeredet, dass man ein Wunderkind ist", sagt Morgenstern.

Spiel mit der Luft

Aber wer damit gemeint ist, ist auch klar: Jugendliche, die mit ihren Leistungen die Erwachsenen-Welt erschüttern, und gerade im Skispringen immer wieder auftauchen, weil dort nicht die schiere Muskelkraft über den Erfolg entscheidet, sondern ein Gefühl für das richtige Verhalten am Schanzentisch und das Spiel mit der Luft, das man nicht lernen, sondern nur haben kann.

Die Szene staunt über Schlierenzauers Genie, aber abschließend bewerten will ihn niemand. Erstens weil die Zukunft ohnehin immer ungewiss ist. Zweitens weil die Vergangenheit schon viele Wunderkinder hervorgebracht hat, die nur sehr kurz strahlten.

Zum Beispiel Toni Nieminen aus Finnland. Er ist immer noch bei der Tournee, allerdings als TV-Kommentator. Vor drei Jahren hat er es aufgegeben, mit seinem frühen Ruhm um die Wette zu springen, mit 29. Heute blickt er aus der sicheren Distanz seiner Erinnerung auf eine Karriere, die nicht nur lustig war. Er lächelt viel, wenn er erzählt. Er hat sich mit seiner Geschichte versöhnt, er nennt sie "merkwürdig".

Das "Toni-Phänomen"

Toni Nieminen war 16 wie Schlierenzauer, als er plötzlich anfing, fast alles zu gewinnen, was ihm vor die Ski kam. Einen nationalen Wettkampf mit den besten Springern Finnlands, seinen ersten Weltcup in Thunder Bay, die Vierschanzentournee, Olympia-Gold im Einzel und im Team, den Gesamtweltcup.

Es war die Saison 1991/92, das Skispringen noch eine Flugshow der Leichtgewichte, der V-Stil jung, und weil Nieminen ein guter Turner war, gelang es ihm, die neue Technik zu perfektionieren. Daheim feierten seine Landsleute das "Toni-Phänomen". Doch dann verstrich die Zeit und nahm ihm sein Talent wieder weg.

Die Konkurrenz holte auf, er wuchs, er wurde schwerer, sein Körper verhielt sich anders in der Luft, und sein Ruhm brachte Möglichkeiten mit sich, für die er nicht reif war. Zum Beispiel die Sondergenehmigung, mit 17 Auto zu fahren: In seinem ersten Jahr mit Führerschein fuhr er im Schnitt jeden Tag über 100 Kilometer.

Nur die Erwartungen der Leute blieben gleich, und in all diesen Umständen verirrte sich Nieminen wie in einem Labyrinth. "Ich hatte mir einen Traum erfüllt, den ich als Kind hatte, und war noch ein Kind", sagt er. Er war überfordert. Auch die Erwachsenen in seinem Umfeld waren überfordert.

Er verlor und verlor, und weil er spürte, dass er damit seine Landsleute enttäuschte: "Ich hatte das Gefühl, dass mein Wert als Mensch nur noch davon abhängig ist, was in der Ergebnisliste stand." Sein altes Hoch erreichte er nie mehr. Toni Nieminen sagt: "Normalerweise zahlt man erst den Preis und gewinnt dann. Ich habe erst gewonnen und dann den Preis bezahlt."

Nieminen glaubt, dass Gregor Schlierenzauer Erwachsene um sich hat, die ihn sicher durch den frühen Erfolg leiten. Und die Erwachsenen um Gregor Schlierenzauer glauben, dass ihm seine eigene Zukunft nicht im Weg stehen wird. Morgenstern hatte mit 16 schon Kraftwerte wie ein Erwachsener. Bei Schlierenzauer sieht es ähnlich aus.

"Den großen Wachstumsschub hat er schon hinter sich", sagt Innauer. Außerdem kann ein Skispringer seinen Sport auch so lernen, dass seine Stärke nicht nur eine Frage des richtigen Körpers ist. "Das Grundprinzip ist, ihm keine Technik beizubringen, die nur funktioniert, weil er klein und leicht ist", sagt Innauer.

Und auch die Regeln sprechen für Schlierenzauer, denn sie sind heute ganz anders als in Nieminens goldenem Jahr: Die Anzüge sind enger, die Ski reglementiert und wer mit seinem Gewicht unter dem Body-Mass-Index liegt wie Schlierenzauer, büßt Tragfläche ein, weil er kürzere Ski tragen muss.

Es gibt keine Skisprung-Wunderkinder mehr, die vor allem ihr Untergewicht auszeichnet. Gregor Schlierenzauer besitzt ein besonderes Talent, Kraft und Fluggefühl zu vereinen. Es kommt aus Tiefen, die keiner kennt, da kommt auch die Zeit nicht gut hin. Und deswegen fürchten seine Gegner den Jungen, so wie sie einst den jungen Morgenstern fürchteten, als der noch kein erwachsenes Wunderkind war.

© SZ vom 3.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: