US Open:Wiedersehen mit dem Unbekannten

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Andre Agassi sorgt für den nächsten US-Open-Klassiker und trifft in der dritten Runde auf B. Becker aus Deutschland.

Milan Pavlovic

Andre Agassis größter Fan saß in der Nacht zum Freitag in einem Hotel in Manhattan. Er heißt Benjamin Becker, und er hoffte, der nächste Spieler zu sein, der versuchen darf, die Karriere des Amerikaners zu beenden. Er hatte sich das Recht dazu mit einem überzeugenden Sieg verdient (7:6, 6:1, 6:2 gegen den an Nummer 30 gesetzten Sébastien Grosjean) und versprochen: "Ich werde Agassi die Daumen drücken. Schließlich war ich eben auf dem Center Court, um zu gucken, wo ich spielen könnte."

Benjamin Becker: Er könnte der letzte Gegner für Agassi sein (Foto: Foto: AP)

Der 25-jährige Deutsche wird seinen Willen bekommen, aber bis dahin musste er lange zittern. Denn als wären bei seinem letzten Turnier nicht ohnehin alle Augen auf ihn gerichtet, scheint Agassi bemüht, die lange Liste seiner spektakulärsten Partien noch einmal umzugestalten.

"Ich verstehe das auch nicht", sagte der 36-Jährige nach dem unwahrscheinlichen 6:4, 6:4, 3:6, 5:7, 7:5 gegen Marcos Baghdatis, "aber im Moment scheint jeder Tag den vorherigen zu überbieten. Ich lebe seit zwei Jahrzehnten einen Traum, und ich kann keinem erklären, wie gut es sich anfühlt, das erleben zu dürfen."

Den Augenzeugen, ja selbst den geschlagenen Gegnern, geht es kaum anders. "Natürlich ist es schmerzhaft, so ein Spiel zu verlieren", sagte der Zyprer, "aber es war toll, ein Teil davon zu sein."

Zusammen hatten die beiden ein Drama aufgeführt, das 23.000 Zuschauer fast geschlossen bis zum zweiten Matchball um zwanzig Minuten vor eins ausharren ließ. Bis sie endgültig johlen und tanzen durften, hatten sie immer wieder wie in einem großartigen Horrorfilm vor Schaudern laut aufgeschrieen, um im nächsten Moment vor Schmerzen zu lachen. "Ich bevorzuge inzwischen das ruhige Leben", versicherte Agassi, "aber das wäre an diesem Ort unangemessen."

Vom Publikum nach vorne getragen

Sogar Baghdatis konnte den Zuschauern, die auch ihn mit Ovationen verabschiedeten, ihre Parteilichkeit verzeihen: "Ich kann sie verstehen. Andre hat unserem Sport so viel gegeben, er hat sich das alles verdient."

Er hat sich die Anerkennung erarbeitet. Und dafür gelitten. Bei seinem letzten Turnier spielt Agassi immer gegen zwei Gegner: den auf der anderen Seite des Netzes - und gegen seinen eigenen maroden Körper. Nach dem nerven- und körperzehrenden Auftaktmatch gegen Andrei Pavel am Montagabend hatte Agassi am nächsten Morgen wegen seiner chronischen Rückenprobleme weder stehen noch gehen noch sitzen können.

Nur Liegen war möglich. Am Dienstagabend erhielt er erstmals während eines Turniers eine Kortisonspritze gegen die Entzündung, und da der Arzt die 18 Zentimeter lange Spritze beim ersten Mal falsch gesetzt hatte, musste Agassi die Prozedur zweimal erdulden.

Von Krämpfen geschüttelt

Aufgepeppt, aber laut den Regularien nicht gedopt, sorgte der Amerikaner für ein Spiel mit mehr Wendungen und Kuriositäten, als es Dramatiker zulassen würden. Agassi, in diesem Fall der Underdog gegen den Finalisten der Australian Open 2006, hätte die Partie in drei Sätzen gewinnen können, in vier Sätzen gewinnen müssen - und er hätte sie genauso locker in fünf Durchgängen verlieren können.

Locker sah Agassi freilich nicht aus, als er zu Beginn des letzten Satzes erstmals mit einem Break in Rückstand geriet. Bis dahin hatte das Spiel einige Pointen parat gehabt, vor allem im vierten Satz, als der Amerikaner bereits 4:0 führte, aber dann spürte, wie die Luft dünner wurde: "Mein Hals zog sich zu, und mir blieb die Luft weg." Das hatte ausnahmsweise weniger mit seinem Rücken zu tun als mit seiner Nervosität und mit Baghdatis, der immer besser wurde. Aber alles bis zum Satzausgleich war nur das Vorspiel.

Im fünften Satz wurde der Zyprer früh von Krämpfen heimgesucht, und als sie bei 4:4 und Einstand wieder auftraten, durfte ihm der Physiotherapeut laut den Regeln nicht vor dem folgenden Seitenwechsel helfen. Baghdatis lag auf dem Rücken und ruderte mit den Beinen wie ein umgedrehter Käfer: "Als der Arzt einfach wieder wegging, dachte ich, ich müsste aufgeben."

Die Tatsache, dass der 21-Jährige von Krämpfen geschüttelt wurde, während der 36-jährige Veteran auf ihn wartete, war irritierend. "Ich konnte mein rechtes Bein nicht mehr strecken", sagte Baghdatis. "Wenn ich das tat, kehrten die Krämpfe zurück. Deshalb musste ich konstant in Bewegung bleiben."

Wie einst Chang gegen Lendl

Und wie er das tat. Weil Agassi wie einst Ivan Lendl im Achtelfinale der French Open 1989 gegen Michael Chang nicht wusste, was er tun sollte, kam Baghdatis zu vier Breakbällen. Er vergab sie, wehrte bei 4:5 einen Matchball ab, hatte bei 5:6 drei Möglichkeiten, sich in einen Tie-Break zu retten, doch Agassi fand doch noch den Dreh, den Zyprer zu Fehlern zu zwingen.

Nach dem Match ließ es sich John McEnroe nicht nehmen, den Abend noch auf dem Platz um Elemente einer Comedy-Show zu bereichern. "Andre, jetzt triffst Du auf B. Becker aus Germany", sagte der TV-Kommentator kurz nach dem Matchball voller humoristischer Sensationslust.

Der Befragte lächelte: "Ja, vielleicht verliere ich mein letztes Match gegen B. Becker . . ." Für einen Moment mischte sich etwas Fatalismus in seine Stimme, aber dann wurde er sich auch dieser Besonderheit bewusst: Der inzwischen 38-jährige Leimener hat zuletzt 1995 in New York gespielt, er wird den 36-jährigen Amerikaner bei dessen letzten Festspielen nicht behindern.

Eher schon Agassis eigener Rücken. Der könnte gut einen zusätzlichen Tag Ruhe gebrauchen. Und den dürfte er auch bekommen: Am Samstag schickt der tropische Sturm "Ernesto" seine Ausläufer nach New York; Dauerregen ist prognostiziert, mit Tennis ist angeblich erst wieder am Sonntag zu rechnen. In diesen Tagen stehen Agassi offenbar sogar höhere Gewalten bei.

© SZ vom 02.09.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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