Unparteiische in der Kritik:Experten wie Johnny Lulu aus Vanuatu

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Trotz chronischer Fehlentscheidungen der Schiedsrichter betreibt die Fifa nur Aktionismus.

Thomas Kistner

Es gibt auch traurige Menschen bei dieser WM, den "traurigsten Mann der Welt" sogar - für Andreas Werz, Sprecher der Fifa-Schiedsrichterkommission, ist das Graham Poll.

Der Engländer hatte beim Vorrunden-Spiel zwischen Australien und Kroatien dem Spieler Josip Simunic gleich dreimal die gelbe Karte gezeigt und sich selbst damit die rote: Er wird für den Rest des Turniers freigestellt.

Offiziell wird dies die Kommission beschließen, die nach Abschluss der Achtelfinalspiele am Mittwoch zusammentritt. Und es ist nicht anzunehmen, dass sich Kommissionschef Angel Villar Llona der öffentlichen Aufforderung von Sepp Blatter widersetzen wird.

WM gerät ins Schlingern

Der Fifa-Chef äußerte bereits, er sei zuversichtlich, die Kommission werde "das richtige Fingerspitzengefühl" für den Fall Poll entwickeln.

Während der Weltverband fieberhaften Aktionismus entwickelt, um zu verhindern, dass diese WM durch chronische Fehlentscheidungen der Spielleiter ins Schlingern gerät, lohnt sich der Blick hinter die Kulissen.

Hat denn die Fifa Konsequenzen gezogen aus früheren Schiedsrichteraffären? Nach der WM 2002 hatte Blatter das Thema zur Chefsache erhoben. Es gab zu viele zweifelhafte Entscheidungen, etwa zugunsten Brasiliens, gegen die Türkei und insbesondere im Achtelfinale gegen Belgien, als ein einwandfreies Tor zum 1:0 aberkannt wurde.

Nicht zu reden von der offenkundigen Bevorzugung Südkoreas, die in der K.o.-Runde gegen Italien und Spanien bizarre Züge annahm. Sollte Co-Veranstalter Südkorea, aus naheliegenden Gründen, so lang wie möglich im Turnier bleiben?

Gastgeber bevorzugt?

Es lässt sich endlos debattieren über die diskreten Notwendigkeiten bei solchen Mega-Events, gesichert ist zweierlei: Ein früher K.o. für die Gastgeber ist aus merkantilen, sportpolitischen und Stimmungs-Gründen unerwünscht, und auffallende Benachteiligungen der Gastgeber bei früheren Weltmeisterschaften sind tatsächlich nicht überliefert.

Auch im laufenden Turnier konnte sich das deutsche Team noch nicht beklagen. In vier Spielen gab es zwei Feldverweise (für Polen und Schweden); ein harmloser Rempler, ein Zupfen am Trikot. Jedenfalls Szenen, die gewöhnlich eher selten zu Platzverweisen führen.

Wie beugt man auf Verbandsebene in dem sensibelsten Bereich des Spielbetriebs Verdächtigungen vor, die man nicht brauchen kann? Indem aus einem Fundus geschöpft wird von Schiedsrichtern, Athleten und Offiziellen mit hoher Sachkenntnis und von tadellosem Ruf.

Beim Blick auf die Schiedsrichterkommission der Fifa drängt sich der Eindruck auf, dass es dort nicht auf Kompetenz ankommt, sondern auf politische Deals. Als stellvertretender Kommissionschef firmiert der brasilianische Verbandschef Ricardo Teixeira, eine der größten Skandalnudeln des Weltfußballs.

Er war Ziel vieler Korruptionsvorwürfe und sogar zweier Parlamentsausschüsse, während Brasilien in den vergangenen zwölf Jahren drei Schiedsrichterskandale erlebte. Dem letzten fiel im Vorjahr der angesehene Fifa-Referee Edilson Pereira de Carvalho zum Opfer.

Experten aus Vanuatu

15 Leute umfasst der Schiedsrichter-Expertenstab der Fifa, darunter ist Johnny Lulu aus der Fußball-Großnation Vanuatu im Stillen Ozean, der Kollege aus dem benachbarten Amerikanisch-Samoa wurde kürzlich durch einen Vertreter Neuseelands ersetzt.

Weitere Experten kommen aus Barbados und Bahrain, aus Algerien, Thailand, El Salvador und dem Senegal. Europa, wo ja vor allem der Spitzenfußball gespielt wird, den es bei Weltmeisterschaften zu begutachten gibt, hat neben dem spanischen Kommissionschef nur noch drei Vertreter: Mario van der Ende (Niederlande), Sandor Puhl (Ungarn) sowie den Italiener Paolo Bergamo - wobei letzterer Anfang Mai rausgeflogen ist..

Bergamo hat gar keine WM-Akkreditierung erhalten, weil er bis zur Halskrause im aktuellen italienischen Betrugssumpf steckt. Vielleicht hätte man in der Fifa auch schon früheren Anschuldigungen nachgehen können.

So verlautete 2005 aus Italien, dass der Klubchef des AS Rom, Sensi, dem Schiedsrichter-Koordinator Bergamo eine Liste von fünf Referees vorgelegt und darum gebeten haben, diese bevorzugt für Spiele seines Klubs einzusetzen.

Doch ein TV-Beweis?

Als Gegenleistung habe Sensi dem Versicherungsmann Bergamo Verträge mit seinen Erdöl- und Immobiliengesellschaften angeboten. Vorgänge, denen man im sportrichterlichen Bereich erhöhte Aufmerksamkeit schenken sollte.

So wird offenkundig, dass für die Fifa die Schiedsrichterfrage bisher eher nachrangig war. Analog zur fragwürdigen Kommissionsbesetzung erfolgt die Berufung der WM-Schiedsrichter.

Auch da stehen Kontinental- und Länderproporz über der einzig entscheidenden Frage: Welches sind die weltbesten Schiedsrichter?

Sollte die Antwort zu einer Häufung von Referees aus Ländern führen, die ständig Partien auf höchstem Niveau pfeifen, etwa in der Champions League, brächte das vielleicht manche Fifa-Wahlmänner aus den Stadtstaaten und Tropeninseln dieser Welt in Rage, es läge jedoch in der Natur der Sache.

So wie eine technische Aufrüstung: Die Debatten werden ja zunehmend unerträglich, wenn Millionen Fans dank der Fernsehkameras klare Fehlleistungen erkennen, die Fifa-Experten sich jedoch weiter gegen entsprechende Anpassungen wehren. Und lieber nach außen auf das Recht des menschlichen Irrens verweisen, das sie nach innen mit Rauswurf bestrafen

© SZ vom 27.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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