Ungarn:Wachgeküsst

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Mit der Achtelfinal-Teilnahme befreit sich die Mannschaft von der erdrückenden Last, immer mit der 54er-Wunderelf verglichen zu werden.

Von JAVIER CÁCERES, Lyon

Bernd Storck führt in Frankreich einen besonderen Kampf, er hat nur bedingt mit der Europameisterschaft zu tun. Vielleicht hat er ihn bereits gewonnen, doch das wird erst die Zeit zeigen; wer weiß schon, ob und wann.

"Wir wurden immer gemessen an der grandiosen Generation der Fünfzigerjahre", sagte Ungarns Nationaltrainer Storck, 53, nach dem Achtelfinaleinzug seiner Auswahl. Gemeint war damit der ewige Vergleich mit jener Wundermannschaft um Puskas, Hidegkuti, Czibor oder Kocsis, den alle Nachfolger auszuhalten hatten. Hat sich diese Mannschaft doch in die Historie eingebrannt wie allenfalls zwei weitere Teams, die für diesen Sport stilbildend waren, obwohl sie nie Weltmeister geworden sind: das WM-Team der Niederlande von 1974 und Brasiliens Mannschaft von 1982. Die Erinnerung an jene Goldene Elf, die Gusztav Sebes trainierte, war erschlagend, daher Storcks Kampf. "Ungarn hat immer in der Vergangenheit gelebt", sagt Storck, und referiert, dass dies zu einer nur schwer zu ertragenden und bremsenden Negativität geführt habe: "Playoffs? Schafft ihr eh' nicht!", habe es noch Ende des vergangenen Jahres geheißen.

Doch Storcks Ungarn lösten nicht nur die Tickets für die Reise nach Frankreich. Sie zogen sogar als Gruppenerster ins Achtelfinale ein, ließen in der Gruppe F Island, Portugal und Österreich hinter sich. Wer hätte das gedacht? Ein sportlicher Erfolg, aber eben noch viel mehr: ein Sieg über die Last der Vergangenheit. "Ich hoffe, dass das jetzt abgehakt ist, dass man endlich aufhört, immer nach hinten zu gucken, anstatt nach vorne", sagte Storck nach dem 3:3 gegen die Portugiesen in Lyon.

Spuren auf dem Grün: Exzessive Jubelposen durften die Ungarn jahrelang nur bei anderen Nationen abgucken. Jetzt leben sie sie wieder selbst aus, so wie Zoltan Gera (Nummer 10) gegen Portugal. (Foto: Jean-Philippe Ksiazek/AFP)

"Jetzt wollen die Kinder Dzsudzsak, Szalai oder Lang sein", sagt Trainer Storck

Wobei: Ein Blick in die unmittelbare Vergangenheit - also jene, die sich gerade in Frankreich abgespielt hat - ist überaus lohnenswert. Die Ungarn können schon jetzt mit Fug und Recht behaupten, einen der bemerkenswertesten Auftritte der EM hingelegt zu haben. Mit ihnen hatte ja kaum jemand gerechnet. Überraschend ist vor allem, dass sie sich damit brüsten können, bei ihrem ersten EM-Auftritt seit 44 Jahren spielerisch überzeugt zu haben. Jeder Profi schien beseelt zu sein von der Idee, einfach nur lustvoll Fußball zu spielen. Sie ließen den Ball am Boden, hatten Persönlichkeit, schlachteten ihre Technik aus, suchten die Flügel, offenbarten ein System. "Das haben sie alles jetzt gelernt", sagt Storck, der seit Anfang 2015 beim ungarischen Verband arbeitet, zunächst als Sportdirektor, seit weniger als einem Jahr als Nationaltrainer. "Ich habe mich am Anfang hingestellt und gesagt: Wir haben Super-Talente, da steckt Potenzial drin, man muss sie nur richtig trainieren. Einen professionellen Weg einschlagen." Nun wisse er: "Harte Arbeit lohnt sich." Der ungarische Fußball habe bloß "im Dornröschenschlaf" gesteckt. Gerade so, als wäre die legendäre 54er-Finalniederlage von Bern (2:3 gegen Deutschland) ein Stich mit einer Spindel gewesen - und Storck gekommen wie ein Prinz, um die Ungarn wachzuküssen. Gemeinsam mit Andreas Möller, seinem Assistenten. Doch auch Storck scheint überrascht, fast schon überwältigt zu sein, wie rasch die Fortschritte zu erkennen waren: "Die Mannschaft hat sich wahnsinnig entwickelt."

Er selbst schreibt sich auf die Fahnen, den Spielern ein anderes Fußballverständnis vermittelt zu haben: "Wir haben ja vorher mehr Kick-and-rush gespielt." Nun wird der Ball nicht mehr hoch und weit nach vorne geprügelt, in der Hoffnung, irgendeine Gottheit würde sich seiner erbarmen. "Ich wollte, dass wir mehr Fußball spielen, mehr Sicherheit in unser Spiel bekommen, mehr Ballbesitz. Im Training haben wir hart darauf hingearbeitet."

Es funktionierte. Dass beim 3:3 gegen Portugal Glück hinzu kam - geschenkt. Weniger beim ersten Tor durch Zoltan Gera (19.) als bei den folgenden Treffern durch Kapitän Balasz Dzsudzsak (47./55.), der Portugals Torwart Rui Patricio auch deshalb überwand, weil seine beiden Schüsse abgefälscht wurden.

Sein Team galt als Sparringspartner für die Konkurrenz - doch der deutsche Trainer Bernd Storck führte Ungarn ohne Niederlage ins EM-Achtelfinale. (Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

Andererseits: Die ungarische Elf, ein Team voll bislang unscheinbarer Kicker, ging gegen Portugal drei Mal in Führung, das zeugt von einer Mischung aus Persönlichkeit, Mut, Ambition, Selbstvertrauen und Respektlosigkeit, die Cristiano Ronaldo, dem Kapitän der Portugiesen, alles abverlangte. Unter anderem: eine Torvorlage auf Nani (42.) und zwei eigene Treffer (50./62.). Den überzeugenden Auftritt seiner Mannschaft führte Storck auch darauf zurück, dass er in der Vorbereitungsphase starke Testgegner ausgesucht hatte, unter anderen Weltmeister Deutschland.

"Dass wir vor 50 000 Leuten gegen eine Weltklassemannschaft gespielt haben, hat uns heute geholfen", sagte Storck nach der Portugal-Partie und fragte: "Wann hatten sie denn mal gegen solche Weltklassespieler gespielt?" Nun wird er nicht nur von seinem Vorgänger Pal Dardai, dem ungarischen Trainer des Bundesligisten Hertha BSC, mit Glückwunsch-Nachrichten eingedeckt. "Das ganze Land steht Kopf. Früher haben sie in Ungarn nur über Spieler aus Deutschland oder Portugal gesprochen. Jetzt wollen die Kinder Dzsudzsak, Szalai oder Lang sein", so Storck.

Oder eben Gergo Lovrencsics, der gegen Portugal zu den Besten zählte und vergessen ließ, dass Storck eine Handvoll Spieler schonte, die Gefahr liefen, fürs Achtelfinale gesperrt zu werden. Auch Lovrencsics, bei Lech Posen aktiv, strotzt vor Selbstvertrauen: "Wir können jeden schlagen." Am Sonntag heißt der Achtelfinalgegner Belgien, das Land, das im Jahr des Ungarn-Auftands, 1956, durch einen 5:4-Sieg auch das Ende der Ära von Gusztav Sebes besiegelte. Belgien ist keine leichte Aufgabe, aber waren das Österreich, Island, Portugal? Und selbst wenn das Achtelfinale Endstation sein sollte, wäre das keine sportliche Katastrophe. Das Turnier sei eh "nur eine Zwischenstation" auf dem Weg zur WM 2018 in Russland. "Die Erfahrung, die positiven Einflüsse der EM werden uns helfen", glaubt Storck: "Für uns ist die Reise nicht vorbei. Sie hat gerade erst begonnen."

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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