TV-Quoten bei der Fußball-WM:Hochrechnungen ins Interstellare

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Der Fußball-Weltverband Fifa korrigiert die aufgeblasenen Zahlen seiner Fernsehzuschauer nach unten - und liegt wohl noch immer viel zu hoch.

Thomas Kistner

Was Sepp Blatter bei seinen reichlich dosierten öffentlichen Auftritten verzapft, erfüllt häufig den Nonsens-Tatbestand. Grober Unfug wird daraus, wenn Weltmeisterschaft ist und der Fifa-Boss wirklich mal im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit steht: Dann jongliert er gern mit Zahlen, die den gesunden Menschenverstand blockieren.

Gucken Außerirdische die Fifa-WM? Anders sind die Quoten kaum möglich. (Foto: Foto: AP)

Zur Lieblingsbehauptung wurden dabei die schon legendären mehr als eine Milliarde Menschen, die es angeblich bei WM-Endspielen vor die Bildschirme rund um den Globus zieht.

Tatsächlich, so zeigt nun eine von der englischen Zeitung Independent in Auftrag gegebenen Expertise, liegt die Zuschauerzahl ,,zwischen einem Viertel und einem Drittel dieser Größenordnung''. Das Blatt meldete sogar, die Fifa habe eingeräumt, dass ihre Zahlen aufgeblasen und teilweise einfach optimistisch geschätzt worden seien.

Die offizielle Fifa-Version ist voller Windungen. Man habe das Blatt auf Inkorrektheiten hingewiesen, erklärt Sprecher Andreas Herren auf SZ-Anfrage. Zugleich räumt er ein, die Messung der Nutzungszahlen von Medien sei ,,keine methodisch exakte Wissenschaft, insbesondere, wenn es um die Erhebung globaler Daten geht. Es handelt sich dabei immer um Annäherungswerte''.

Diskrete Intervention

Das ist richtig, nährt aber den Vorwurf des Independent, dass die Zuschauerzahlen fortgesetzt manipuliert worden seien; Man kann ja, wenn schon geschätzt werden muss, auch nach unten gehen.

Die am Dienstag bekundete Erkenntnis der Fifa, ,,dass mit der Weiterentwicklung und Verbesserung der Erhebungsmethoden auch frühere Fehleinschätzungen zu Tage kommen'', birgt nicht nur eine gewisse Peinlichkeit, sie kann auch teuer werden.

Die sechs Topsponsoren für die WM 2010 müssen je 100 Millionen Dollar hinblättern - fragt sich wofür, wenn die Fifa ihre Werbedeals auf der Basis fragwürdiger Zahlen berechnen sollte. Fünf der Firmen enthielten sich jeder Kommentierung, die sechste Firma könnte ins Grübeln kommen.

Das Kreditkarten-Unternehmen Mastercard gewann soeben einen Rechtsstreit um 195 Millionen Dollar Sponsorengeld gegen den Weltverband und könnte die starke Position jetzt nutzen, aufzuräumen auf dem überhitzten Parkett der Sportmarketender.

Hier schauen wirklich viele Menschen zu. Aber 750 Millionen? (Foto: Foto: AP)

Erst vorige Woche untersagte ein New Yorker Bezirksgericht der trickreichen Fifa, den in den USA verlorenen Streit vors Zürcher Handelsgericht zu verlagern, um am Fifa-Sitz quasi ein Heimspiel zu austragen zu können.

Das US-Gericht hatte zuvor einen Sponsorenvertrag zwischen Fifa und Mastercards Hauptrivalen Visa annulliert und Blatters Fifa außergewöhnlich scharf gerügt: Mastercards Erstzugriffsrecht sei auf infame Art umgangen worden. Weil derzeit keine der beiden Firmen zahlt, entgehen der Fifa rund zwei Millionen Dollar monatlich.

Da passt die neue Affäre ins Bild, mitsamt den Rahmenbedingungen: Fürs WM-Fernsehdatenwerk zuständig ist die Firma Infront in Zug, die den weltweiten Verkauf der WM-TV-Rechte abwickelt. Infront-Vorstandschef ist Philippe Blatter, der Neffe des Fifa-Präsidenten.

Kurssturz

Den fröhlich gepuschten Fifa-Zahlen zufolge wurden nur den WM-Endspielen 1998, 2002 und 2006 ein fast schon interstellares Interesse zuteil: 1,3 Milliarden, dann 1,1 Milliarden sowie zuletzt nur noch 715 Millionen Menschen hätten die Finals gesehen.

Der Kurssturz des Finales 2006 in Berlin ist angeblich einer diskreten Intervention der von der Fifa eingesetzten Londoner Firma Sponsorship Intelligence zu verdanken: Die soll auf eine ,,realistischere Auswertung'' des Zahlenmaterials gedrängt haben.

Selbst die 715 Millionen beruhen großenteils auf Schätzungen, etwa in Afrika, und flotten Hochrechnungen, etwa in Riesenländern Asiens wie China oder Indien, in denen Fußball aber fast keine Rolle spielt.

Eingerechnet wurde auch ein Posten von ,,100 Millionen plus x Zuschauern'', also all jene, die außer Haus die WM guckten. Hingegen haben die Analysten der Firma Initiative Sports Futures, leidenschaftslos und von der Fifa gänzlich unabhängig, ermittelt, dass nur 260 Millionen Menschen das Finale geschaut haben.

Sie erhoben ihre Zahlen in 54 Schlüsselmärkten, welche 90 Prozent der TV-Haushalte weltweit bilden. Zählt man die restlichen zehn Prozent dazu sowie die Public-Viewing-Masse, wäre eine Marke von 400 Millionen denkbar - mit größter Fantasie.

Acht Milliarden zu viel

Eine Milliarde Menschen vor der Glotze, wie von Blatters Fifa ständig suggeriert - das wäre ein Sechstel der Menschheit, von Babys über Kleinkinder und Milliarden Desinteressierter, Mittel- und Obdachloser bis zu bettlägerigen Greisen.

Anders ausgedrückt: Marketing hat nichts mit Mathematik zu tun; warum sollte man zulassen, dass letztere das wohl eindrucksvollste Werbepotential der Sportwirtschaft kaputt macht? Funktionäre wie Blatter denken weiter, etwa an die Politik - es träumt ja mancher an der Fifa-Spitze immer noch vom Friedensnobelpreis. Wäre es da kein Argument, eine Milliarde Menschen friedlich zu vereinen?

Experten schätzen, dass nicht einmal in Deutschland beim Endspiel zwölf Millionen Menschen vor den Bildschirmen saßen. Überhaupt: Weshalb sollten 100 Millionen Leute ein WM-Spiel wie Togo gegen die Schweiz gucken? Die meisten Spiele der Champions League sind packender, zum Leidwesen des Fifa-Bosses, der nicht frei von Eitelkeit ist.

Schon nach der WM 1998 musste die Fifa die Zahlen revidieren, da hatten die Hochrechnungen für den Markt China 10,8 Milliarden Einschaltungen ergeben - mindestens acht Milliarden zu viel. Auch 2002 wurde korrigiert - was die Fifa nun zu dem Hinweis nutzt, deshalb seien ,,direkte Vergleiche der Daten von 1998, 2002 und 2006 nicht aussagekräftig''.

In Sachen WM-Finale 2006 aber hält die Fifa verzweifelt ,,daran fest, dass es kumuliert (Live, Public Viewing und Wiederholungen) von 715 Millionen Zuschauern gesehen wurde''; die unabhängig erhobenen 260 Millionen bezögen sich ,,nur auf die Liveübertragung'' (welche die Fifa nun selbst mit nur noch 313 Millionen veranschlagt).

Die neue Rechenart ist nicht schlecht. Inklusive aller Wiederholungen wäre wohl sogar das Fernsehtestbild auf eine Milliarde Betrachter gekommen.

© SZ vom 08.03.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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