Turnen:Nur kein Rodeo

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Macht nach dem Kreuzbandriss Fortschritte an Barren, Reck und Ringen. Doch Marcel Nguyen wird auch dringend an Boden und Sprung gebraucht. (Foto: imago/Pressefoto Baumann)

Die interne Qualifikation zeigt, dass den Turnern vor der WM in Glasgow noch eine gewaltige Aufgabe bevorsteht - Problemgerät bleibt das Pauschenpferd.

Von Volker Kreisl, Stuttgart

Es war wohl die passende Antwort in diesen Zeiten. Die Frage war, welches denn die Schlussfolgerungen seien aus dem, was der Bundestrainer soeben von seinen Turnern am Pauschenpferd gesehen hatte. Aus dem Auftritt an jenem Problemgerät, das die Mehrheit der deutschen A-Kader-Athleten hauptsächlich nervt. Woraus die Deutschen keinen Hehl machen, sie sind eben Reck- oder Barren-, und keine Pferdturner, und das war gerade wieder deutlich geworden. Was also wäre noch zu tun am Pferd nach diesem Auftritt, das war die Frage an Trainer Andreas Hirsch, und er sagte: "Abschaffen."

In dieser recht kurzen Antwort steckte ziemlich viel von dem, was die deutschen Turner momentan so denken und fühlen. Sie sind einerseits erschöpft und ein wenig fatalistisch angesichts der schweren Aufgabe der Olympia-Qualifikation, die bevorsteht, andererseits haben sie ihren Humor noch nicht verloren. Fabian Hambüchen, der Olympiasilbergewinner am Reck, stimmte seinem Trainer zu, das lästigste von den sechs Geräten einfach abzuschaffen und auf den Müll zu werfen: "Machen wir ab jetzt modernen Fünfkampf!"

"Wir sind ein bisschen eine Invalidentruppe", sagt Fabian Hambüchen

Doch das geht natürlich nicht, der Bock mit den zwei Pauschen stellt turnerische Tradition dar wie das Reck, und auf dem Weg nach Olympia hat er nun eine Schlüsselfunktion. Auch aus anderen Gründen sind die Gesamtaussichten der Deutschen bei der WM in Glasgow nicht die besten. Aus dem Kreis der Profiliertesten gilt nur Hambüchen als fit, auch wenn er neuerdings einen Cut am Oberarm hat, weshalb das Aufprallen nach einem Salto auf die Barrenholme beständig schmerzt. Marcel Nguyen, der Mehrkampf-Zweite bei den Olympischen Spielen in London 2012, nähert sich nach seinem Kreuzbandriss zwar langsam seiner Bestform, aber auch er hat einen Cut - nur in der Handfläche, weshalb diese beim Schwingen an den Barrenholmen beständig schmerzt. Ähnlich wiederkehrend sabotieren andere Malaisen die Trainer bei der Arbeit. So haben sich neben den beiden Top-Turnern zwar die Allrounder Andreas Toba (Hannover) und Andreas Bretschneider (Cottbus) empfohlen, auch sie waren früh für Glasgow gesetzt. Doch Bretschneider ist nun schon wieder verletzt. Insgesamt gibt es im Team noch einige zu frische Narben, und deshalb sagt Hambüchen: "Wir sind ein bisschen eine Invalidentruppe."

Bretschneider hat sich in der zweiten internen Qualifikation am Samstag den Zeigefinger der linken Hand gestaucht. Zudem vertrat sich der Stuttgarter Sebastian Krimmer beim Sprung den Fuß. Für beide lagen zunächst keine präzisen Diagnosen vor, doch Bundestrainer Hirsch bleibt optimistisch, die Lage zwingt ihn ja dazu. Er berief am nächsten Tag neben Bretschneider auch Krimmer, dazu noch Philipp Herder (Berlin) und Christopher Jursch (Cottbus). Vier gesunde Mehrkämpfer braucht er, und als Ergänzung zwei Turner und einen Ersatzmann, die in den Problemzonen helfen können. Wegen der vielen Reha-Pausen nach Bein- und Fußverletzungen sind das zum einen Sprung und Boden, und dann eben auch das Pauschenpferd. Zum Problem der allgemeinen Aversion kommt hinzu, dass die Deutschen in Glasgow die ungünstigste Rotation erwischt haben. Diese erinnert an ein Fußballspiel, das im Elfmeterschießen endet: Das Pferd kommt bei ihnen ganz zum Schluss.

Sie werden also noch viel trainieren, sich mental auf die spezielle Situation einstellen und alles dafür tun, damit es nicht wieder nach Rodeo aussieht. Beim Qualifikationskampf am Samstag wirkte der lederbezogene Rumpf auf vier Beinen wie ein aggressives Pferd, bei dem der Abwurf nur eine Frage der Zeit ist. Ergebnis: Aus der ersten Gruppe scheiterten vier Turner. Einige verloren in den Drehungen die Orientierung, einige stiegen ab, einer davon, der Hallenser Matthias Fahrig, gleich mehrmals. Der Boden- und Sprungspezialist erlebte keinen guten Tag. Auch die zweite Gruppe sah zunächst nicht besser aus. Hambüchen und Nguyen blieben zwar oben, doch ihre Darbietung veranschaulichte gut, wie schwer es ist, sich nach fünf Geräten noch auf einem wilden Hengst zu halten. Ihre Beine wirkten müde, immerhin war der Abgang ordentlich.

Alle müssen nun die richtige Mischung aus Ehrgeiz und Gelassenheit finden. Das Team wird am Stützpunkt in Kienbaum zusammengezogen, und es wird in den zweieinhalb Wochen bis zur WM ähnlich wie die Frauen-Mannschaft von Bundestrainerin Ulla Koch versuchen, Konzentrationsfehler zu beseitigen, ohne sich erneut zu verletzen. Denn neue Verletzungen sind kaum noch aufzufangen.

Aber das sind Szenarien, an die beim Deutschen Turnerbund jetzt niemand denkt, schon seit Wochen verfolgt Hirsch die Strategie, aus dem Bestehenden das Beste zu machen ohne zu lamentieren. Und trotz aller Rückschläge gibt es ja immer wieder auch Fortschritte. Hambüchens exzellente Reckübung mit einem Schwierigkeitswert von 7,3 etwa, die er in Stuttgart wie im Schlaf präsentierte, oder die starke Vorstellung von Hambüchen, Toba und Bretschneider an den Ringen.

Oder die von Sebastian Krimmer am, ja, am Pauschenpferd! Krimmer ist die Ausnahme unter den Deutschen, und er näherte sich am Samstag mit einer Schwierigkeit von 6,0 der Weltklasse. Abschaffen würde er das Pferd sicherlich nicht.

© SZ vom 05.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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