Turnen: EM in Berlin:Zum Beweis Europameister

Philipp Boy gewinnt bei der Turn-EM in Berlin denkbar knapp den Mehrkampf und zeigt neue Nervenstärke. Bei den Frauen profitiert Elisabeth Seitz vom Ausfall einer Favoritin und holt Silber. In Bildern.

Volker Kreisl, Berlin

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Philipp Boy gewinnt bei der Turn-EM in Berlin denkbar knapp den Mehrkampf und zeigt neue Nervenstärke. Bei den Frauen profitiert Elisabeth Seitz vom Ausfall einer Favoritin und holt Silber. In Bildern Frauen Die erste große Entscheidung fiel gleich zu Beginn. Die Weiche für den Erfolg der anderen, für ein außergewöhnliches EM-Finale, das mit Mehrkampf- Silber für die Mannheimerin Elisabeth Seitz (Bild) endete, stellte der Zufall - gleich in der ersten Übung des Abends.

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Das heißt, die russischen Ärzte würden wohl weniger von Zufall sprechen als von hartem Schicksal. Alija Mustafina, weit überlegene Favoritin für den Mehrkampf und mindestens zwei weitere Einzelfinals griff sich nach ihrer Sprunglandung sofort ans linke Knie, blieb für einen Moment liegen und wurde schließlich von einem Trainer aus der Halle getragen. Ein verstauchtes Knie wurde diagnostiziert, Mustafina ins Krankenhaus gebracht. Ob sie in den Einzelfinals dabei sein kann, ist fraglich. Die sichere Goldkandidatin war ausgeschieden, Mustafinas Albtraum wurde zur Chance einer ganzen Reihe anderer.

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Dass Seitz den größten Abend ihrer Karriere erlebte und eine Medaille errang, lag aber auch an ihrer ausgezeichneten Form. "Ich bin total überwältigt", sagte Seitz danach. Allenfalls mit Bronze hatte sie geliebäugelt, steigerte sich aber in Bewegungsabläufe, wie sie 17-jährige Turnerinnen selten erleben.

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Nach dem Sprung war noch alles im erwarteten Rahmen, ...

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(Foto: dpa)

... nach einer starken Stufenbarrenübung setzte sie sich in den Medaillenrängen fest.

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(Foto: AFP)

Am Schwebebalken profitierte sie von eleganten Sprüngen und kräftigem Arm-Rudern, um das Gleichgewicht zu halten.

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Silber hinter der anderen starken Russin Anna Dementiewa und vor Elena Racea (Rumänien) sicherte sie sich zum Abschluss mit einer fast makellosen Darbietung am Boden.

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Männer Philipp Boy wirkte erschöpft. Gewiss, die unmittelbaren Folgen seines Sieges drängten die Müdigkeit noch zurück. Einen Blumenstrauß hatte er bekommen, einen offiziellen Händedruck dazu, die Takte der Nationalhymne, von der Hallensprecherin als "die Hymne des Europameisters" angekündigt, hatte er gehört. Boy hatte weitere Hände geschüttelt und wusste, das würde erst mal nicht aufhören, denn auch im Turnen finden heute zwei Siegerehrungen statt, eine mit Blumen und später noch eine mit Medaillen irgendwo im Stadtzentrum - in Berlin am Potsdamer Platz.

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Dennoch wirkte Boy nun blass, seine Stirn war feucht, er war so erschöpft, wie man es eben ist, nach drei aufreibenden Stunden und einem Sieg, den man mit 0,05 Punkten Vorsprung errungen hat, der eine Zäsur in der Karriere ist.

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Der Turner Philipp Boy ist am Freitag Mehrkampf-Europameister geworden, und er hat dabei gelernt, wie schwer ein Wettkampf ist, in dem man sich immer wieder neu aufrichten muss; welcher Unterschied besteht zwischen einer WM-Silbermedaille, die er an einem perfekten Tag geholt hatte, und einem EM-Titel, den er als Favorit vor eigenem Publikum erringen musste; wie viel Kraft eine letzte Willensanstrengung kostet, wenn es beim letzten Gerät um alles geht, weil man als Favorit vorher all die Chancen ausgelassen hatte, zwischen sich und die anderen einen komfortablen Abstand zu legen.

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(Foto: AFP)

Boys letztes Gerät war der Boden, und seine letzte Übung war eine Dreifachschraube in einem gestreckten Salto. "Vor dem letzten Anlauf", sagte Boy, "stand ich da und dachte: Mensch du willst Europameister werden, du musst das jetzt unbedingt schaffen." Er landete nicht ganz punktgenau, aber es reichte.

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Boy kam auch zupass, dass die Konkurrenz seine Schwächen, die er ausgerechnet an seinen Paradegeräten Barren und Reck zeigte, nicht nutzte. Am Barren setzte er bei einem Umgriff mit den Oberschenkeln kurz auf den Holmen auf und erhielt empfindliche Abzüge.

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(Foto: AP)

Am Reck verlor er in einem Handstand fast die Balance und somit auch ein Element im Ausgangswert. Doch die anderen zogen nicht davon. Flavius Koczi, später Zweiter, sowie Daniel Purvis und Mykola Kuksenkov, die gemeinsam den dritten Platz belegt hatten, verfügten aber nicht über genügend Schwierigkeiten.

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Teamkollege Marcel Nguyen verpasste eine Medaille wegen eines Sturzes vom Reck.

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(Foto: dpa)

Und Maxim Dewiatowski, der traurige Russe, machte es wie bei der WM in Rotterdam. Der EM-Zweite von 2009 musste vom Pauschenpferd absteigen und nahm sich die letzte geringe Chance auf einen vorderen Platz mit einem gesessenen Sprung. Dewiatowski nahm seine Tasche, trottete zum nächsten Gerät und ließ den restlichen Nachmittag nur noch über sich ergehen.

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(Foto: Bongarts/Getty Images)

Boy wurde also Europameister mit der ziemlich niedrigen Gesamtzahl von 88,875 Punkten, doch er profitierte auch von eigenen Fortschritten. Boy hatte nicht nur in den vergangenen Jahren an seinen so genannten Ausgangswerten gearbeitet, sondern auch an seinen inneren Tugenden. "Früher hätte ich nach so einer Sache wie am Barren dicht gemacht", sagte er. Diesmal hielt er gewissermaßen dagegen, weil er seine Wettkampfhärte beweisen wollte und weil er der Sport-Öffentlichkeit zeigen sollte, dass es mehr Turner gibt in Deutschland als immer nur den einen.

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(Foto: dpa)

Dafür dass die Sportart Turnen für viele Zuschauer eine Sportart Hambüchen darstellt, kann Fabian Hambüchen ja nichts, und Boy weist auch darauf hin. Dennoch ist im Team ein Gleichstand zu verzeichnen zwischen dem Spitzenturner der Jahre 2005 bis 2009 und Boy, Marcel Nguyen und Matthias Fahrig, die während Hambüchens Verletzungsphasen die Medaillenversorgung fast nahtlos übernommen haben. In vielen Medien wurden Erfolgsmeldungen allerdings meist mit dem Zusatz "in Abwesenheit von Hambüchen" versehen.

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Der Erste, der den Anbruch der neuen Zeit begrüßt hat, war Hambüchen selber. Boy sei ein würdiger Nachfolger als Mehrkampf-Europameister, er habe den Erwartungen standgehalten, im übrigen verteile sich der Druck jetzt auf vier Turner, sagte Hambüchen: "Das ist das Beste, was uns passieren konnte." Denn es heize den Konkurrenzkampf für den Mehrkampf an - in einem Finale dürfen ja immer nur zwei von einer Nation antreten. "Gut möglich, dass ich auch mal das Nachsehen habe", sagte Hambüchen.

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(Foto: AFP)

Denn eigentlich sind sie ja jetzt zu dritt. Marcel Nguyen aus Unterhaching hätte vielleicht sogar gewonnen, wenn er bei seinem dritten Reck-Flugelement nicht daneben gegriffen hätte. Vielleicht. Nguyen hat sich enorm entwickelt, ob er das Zeug zum Titelträger hat, muss er wie Boy erst beweisen.

© SZ vom 9. April 2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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