Turnen:Ein Abend ohne Rausch

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Höhenflug: Turnerin Elisabeth Seitz, hier bei ihrer Bodenübung, schaffte es beim olympischen Mehrkampf auf den neunten Rang. (Foto: LIONEL BONAVENTURE/AFP)

Beim olympischen Mehrkampf der Frauen fehlt in Simone Biles erstmals eine überragende Vorturnerin - es wird dennoch ein hochklassiger Vergleich. Die US-Amerikanerin Sunisa Lee gewinnt, die Deutschen genießen die Atmosphäre.

Von Volker Kreisl

Am Donnerstagabend in Tokio kam es zu einer Turn-Premiere. Oder zumindest zu einem Wettkampf, wie es ihn gefühlt schon seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Es wurden beim olympischen Mehrkampf der Frauen immer noch Spitzenübungen präsentiert, es war immer noch ein elitärer und vielfältiger Wettstreit, und doch: der Kick, das berauschende, alles überragende Element war weg.

Klar, denn es fehlte diejenige, die diesen Part die vergangenen sieben Jahren perfekt spielte. Simone Biles hatte, nachdem sie sich wegen ihres mentalen Einbruchs aus dem Teamwettkampf verabschiedet hatte, auch ihre Teilnahme am Mehrkampf abgesagt. Doch auch wenn es etwas durchschnittlicher zuging beim Ermitteln der weltvielseitigsten Turnerin, drängte sich die Frage auf: Ist das nun schlecht fürs Turnen oder besser?

Lee besticht am Stufenbarren mit Direktverbindungen zwischen den Elementen

Gejubelt, gekreischt und geweint vor Freude wurde jedenfalls auch diesmal. Sunisa Lee, Biles' Teamkollegin aus den USA, gewann, jedoch nicht mit zwei, drei Punkten Vorsprung wie sonst die US-Weltstars, sondern denkbar knapp. Lee kam auf 57,433 Punkte, Silber gewann die Brasilianerin Rebeca Andrade mit 57,298 Zählern, und Dritte wurde die Russin Angelina Melnikowa (57,199). Zwischen Erster und Dritter lagen somit 2,34 Zehntel. Fesselnd war weniger die Höchstleistung als die Spannung.

Jede der Drei hatte an einem anderen Gerät ihre Stärken, womit keine früh davonziehen konnte. Die 18-jährige Lee etwa am Stufenbarren, an dem sie mit Direktverbindungen zwischen den Elementen besticht und zwischen unterer und oberer Stange scheinbar mühelos hin- und herpendelt. Andererseits führte dann der Umstand, dass Lee ihre dreifache Pirouette am Schwebebalken noch geradeso hinbekam ohne herunterzufallen, dazu, dass sie erst zum Schluss jubeln durfte. Als die Hallen-Anzeige verkündete, dass sie knapp vor Andrade lag, hatte sie bereits die Trainingsjacke an.

Die beiden Deutschen, die auch dabei waren, konnten nicht erwarten, in diesen immer noch elitären Medaillenstreit einzutreten, für sie ging es um anderes. Elisabeth Seitz und Kim Bui waren zunächst mal nur froh, überhaupt dabei zu sein, was nach den Einbußen im Pandemie-Training nicht mehr so selbstverständlich war. Der Rest war Zugabe, ein willkommener Abend unter den 24 Weltbesten. Beide wirkten gelöst, als sprangen, überschlugen und drehten sie sich hier nicht in einem olympischen Finale, sondern im Vereinseinsatz. Am Ende führte das Ganze auch noch zu einem Erfolg. Seitz kam unter die Top Ten mit ihrem neunten Platz, ihrem besten olympischen Mehrkampf-Ergebnis, und Bui auf Rang 17.

Elisabeth Seitz schafft eine gelungene Generalprobe fürs Barrenfinale

Wobei es bei Seitz dann doch nochmal ernst wurde, nämlich als es zum Stufenbarren ging. An dem hat sie schon einmal WM-Bronze gewonnen, und vollkommen ausgeschlossen ist es nicht, dass sie im Barrenfinale am Sonntag (12.27 Uhr MESZ) noch einmal überrascht. Insofern hat sie nun mit einer gelungenen Generalprobe im Wettkampf eine Grundlage geschaffen.

Kim Bui wiederum brauchte keine Generalprobe mehr, die 32-jährige Stuttgarterin ist seit 17 Jahren dabei, war mal in der ersten Riege, mal Ersatzturnerin, und musste auch schon schwere Verletzungsphasen durchstehen, wie ihre beiden Kreuzbandrisse 2010 und 2015. Nun ist das Karriereende wohl nicht mehr weit, vielleicht versuchte sie auch deshalb, von diesem olympischen Mehrkampf-Finale alle Eindrücke aufzusaugen und mitzunehmen. Wie immer turnte sie nicht im überragenden Bereich, aber doch elegant und sicher. Ihr Ziel hier war ja etwas anderes. In diesen Tagen der Überlastungsdebatte an der Spitze symbolisierte Bui einen schönen und passenden Kontrast. Ihr größter Wunsch vorab war: "Ich will es einfach nur genießen."

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