Turnen:Die Zehen in den Himmel

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Nur die Katze schaut zu: Marcel Nguyen, olympischer Silbermedaillengewinner im Turnen, trimmt seinen Körper in tadelloser Haltung auf dem kleinen Übungsbarren im eigenen Garten. (Foto: Matthias Hangst/Getty Images)

Marcel Nguyen profitiert wegen seine Verletzung besonders von der Verlegung der Spiele. Doch für seinen letzten Olympia-Traum muss er im Grunde ein neuer Turner werden.

Von Volker Kreisl, München

Immerhin, Marcel Nguyen hat zwei Holme in den Händen. Zwei parallele Holzstangen mit Federstahlkern, eine rechts, eine links. Er kann wieder die Hände mit Magnesia präparieren, das Holz in den Handflächen spüren, den Griff justieren, den Körper langsam aufklappen in den Handstand. Nguyen kann dann vor- und zurückwandern, er kann Kraftübungen machen und das Gleichgewicht trainieren. Nur Schwingen, das ist noch tabu, denn die Holme von Nguyens Trainings-Minibarren befinden sich gerade mal einen halben Meter über dem Boden.

Aber sein Traum fliegt dafür gerade umso höher. Die Olympischen Spiele in Tokio sind auf einmal wieder ein reales Ziel. Die Perspektiven können für den zweimaligen Olympiazweiten nicht besser sein. Er ist einer der wenigen Sportler, die schon vor dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie ein Problem mit dem Juli-Termin 2020 hatten. Vor einem halben Jahr hatte er sich schwer an der linken Schulter verletzt, bis zum Sommer fit zu werden, war ohnehin ein gewagtes Ziel, nach dem Trainingsstopp wegen der Ausgangsbeschränkung wurde es fast zur Illusion.

Nun hat er mit der Verlegung der Spiele ein Jahr länger Zeit, um Kraft aufzubauen. Und natürlich hat Nguyen, 32, sich von den sechs Turngeräten nun kein Behelfspauschenpferd besorgt oder Mini-Ringe aufgehängt, sondern diesen Bodenbarren in den eigenen Garten in seiner Heimat Unterhaching gestellt.

Der Barren war sein Begleiter von Beginn an. Viele junge Turner scheitern an diesem Gerät, das Kraft und Grazie besonders vereint, Nguyen aber schätzte es schon als 17-Jähriger. Am Barren fiel er 2005 erstmals der Konkurrenz auf, als er den damals noch seltenen Tsukahara als Abgang vorführte. Mit den Holmen begann alles, an ihnen erreichte er 2012 mit Olympiasilber den Höhepunkt, und es ist auch der Barren, der ihn jetzt motiviert, gegen Ende der Karriere.

Also noch einmal die Hände einpudern, nicht irgendwo, sondern an der Magnesia-Schüssel bei Olympischen Spielen. Und nicht in irgendeiner Qualifikation: "Ich will am Barren noch mal ins olympische Finale", sagt er, in jenen Wettkampf, den er in Rio de Janeiro 2016 knapp verpasst hatte. Ein letztes Mal will er auf der größten Bühne turnen, mit etwas Glück vielleicht sogar noch einmal eine Medaille gewinnen. Noch mal will er wie damals in London über die Holme wandern, hin- und herschwingen, sich drehen und wenden, die Zehenspitzen in den Himmel strecken und schließlich mit Salto und Schraube in den Stand springen.

Eine der schwersten Aufgaben: Bei den Riesenfelgen am Reck endlich die Beine strecken

Nur, um das wahr zu machen, braucht er Selbstdisziplin, eine Tugend, die nie zu seinen Stärken zählte, an der er aber schon länger arbeitet. Denn die Zeiten und die Regeln haben sich im Turnen geändert, so stark, dass Marcel Nguyen eigentlich ein neuer Turner werden muss.

In seinem Fall bedeutet Selbstdisziplin zunächst mal Sauberkeit. "Früher hab' ich immer schwer, aber unsauber geturnt", sagt Nguyen. Damals rechnete sich das noch, weil ein schlampiger Doppelsalto oder eine geeierte Schraube in der Übung immer noch genügend wert war, um die Abzüge in der Ausführung zu rechtfertigen. Vor ein paar Jahren aber wurden die Vorschriften geändert, auch um Verletzungen zu vermeiden. Die riskante Akrobatik lohnt sich heute nur noch für die Besten, der Rest muss hoffen, dass die Spitzenleute patzen - und selber einfach, aber eben makellos turnen.

Selbstdisziplin bedeutet in Nguyens Fall also auch, Liebgewonnenes loszulassen. Bei seinem Doppelsalto am Barren auf die Oberarme gibt es zwar "Ahs" und "Ohs" von den Rängen, aber reichlich Zehntel-Abzüge von den Kampfrichtern, wenn er zu hart auf die Holme donnert, statt geschmeidig wie eine Feder zu schweben. Und Nguyen turnt trotz seiner vietnamesischen Wurzeln, trotz seines leichten Körpers, heute eben auch nicht mehr wie eine Feder. In den letzten Jahren musste er feststellen: "Die Abzüge beim Doppelsalto sind einfach zu stark."

Aber das sind noch gar nicht die größten Herausforderungen für die kommende Zeit. Nguyen muss nicht nur alte Gewohnheiten loslassen, sondern auch den Gedanken an den eigenen Barren-Ruhm. Das wichtigste Ziel der Mannschaft von Bundestrainer Andreas Hirsch stellt das Teamfinale dar, und weil die Olympia-Riegen verkleinert wurden, muss jeder ein Universalturner und zu einem sauberen Sechskampf fähig sein, was bedeutet, dass Marcel Nguyen viel zu tun bekommt, und zum Beispiel endlich am Reck seine Beine ordentlich strecken muss.

Doch das, sagt er, "ist unfassbar schwer". Das Training für den letzten großen Höhepunkt ist auch deshalb so aufwendig, weil Nguyen nun nach 15 Jahren manche schlechte Gewohnheiten einholen. Damals war es nicht unüblich, die Beine während der Riesenfelge am Reck leicht anzuwinkeln. Für das, was Nguyen einst gelernt hatte, gibt es aber heute schmerzhafte Abzüge in der Note. Und weil das Gesamtsystem Reckturner ein sensibles Flugobjekt ist, weil schon eine kleine Umstellung der Gewohnheiten das Hundertstel-Timing zwischen Loslassen und Fangen der Stange stört, braucht Nguyen fürs Strecken der Beine viel Zeit: "Man fängt viel weiter hinten von vorne an."

Der Aufwand für Tokio bleibt also beachtlich, obwohl Nguyen nun zwölf bis 16 Trainingsmonate mehr hat, je nachdem, wann die Spiele 2021 terminiert werden. Zeit zu verschwenden hat er dennoch nicht. Schon um sich fit zu halten, geht währende der Ausgangsbeschränkung eine kleine Barren-Einheit im Garten immer. Gut möglich also, dass Unterhachinger Spaziergänger, die in diesen Tagen an seinem Haus vorbei kommen, stehen bleiben und den Kopf schräg legen: Das da hinten, sind das zwei Turnerfüße?

© SZ vom 29.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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