Turnen:Die Übriggebliebenen

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Deutschlands Turner kämpfen bei der Heim-WM ersatzgeschwächt um die Qualifikation für Olympia. Insbesondere Andreas Toba und Lukas Dauser müssen überzeugen.

Von Volker Kreisl, Stuttgart

Ein Turner muss alles Mögliche können. Hoch springen, fliegen, Figuren in die Luft zaubern, mal als Salto-Artist, mal als Brett, das waagerecht an zwei Ringen hängt, bis die Oberarme brennen. Aber das ist noch nicht alles. Ein Turner muss weitere Fertigkeiten haben, er muss auch die Zeit totschlagen können oder wie der Barrenspezialist Lukas Dauser in der Lage sein, morgens beide Beine exakt gleichzeitig neben dem Bett aufzusetzen.

Es wird für die deutschen Turner vielleicht das längste Wochenende ihrer Laufbahn. Die Weltmeisterschaften mit ihrer tagelangen Qualifikationsphase sind seit Freitag, 9 Uhr im Gang, aber der Auftritt der Auswahl von Bundestrainer Andreas Hirsch beginnt erst am Sonntagabend um halb acht. Bis dahin wird in der Nebenhalle trainiert, im Hotel nebenan ausgeruht, gegessen, etwas Freizeit hinter sich gebracht, wieder trainiert, im Hotel ausgeruht und so weiter. In der Haupthalle schreien derweil schon die Zuschauer, während Turner jubeln oder trauern, weil sie im nächsten Jahr bei Olympia dabei sind oder eben nicht. Und Hirschs Team nebenan wird versuchen, locker zu bleiben und nach vorne zu schauen.

Die Lage ist nicht die beste, Hirschs Turner zählen schon seit längerem nicht mehr zu den sicheren Olympia-Qualifikanten, sie sind eher in der Rolle des Außenseiters. Seit Monaten haben sie sich auf diesen Moment vorbereitet, ihre Luftfiguren verfeinert - und dann gleich wieder den nächsten Rückschlag abgekriegt. In der vorigen Woche hat sich Marcel Nguyen abgemeldet, ein Band in seiner Schulter war beim Hochziehen angerissen, es habe nicht wehgetan, nur ganz kurz "krk" gemacht, schilderte er, vielleicht nur für einen erfahrenen Turner spürbar. Sofort stoppte Nguyen das Training, fuhr zu seinem Arzt, von Berlin nach Freiburg und wieder zurück, aber es half nichts. Er wird nun also dem Team fehlen, das nach vorne schaut.

Übrig sind immer noch sechs fähige Turner, deren Ausgangswerte an den Geräten dazu taugen, eine Olympia-Qualifikation zu schaffen, und auch das Teamfinale dieser WM zu erreichen. Für Nguyen wurde Philipp Herder, 26, nachnominiert. Auf dem Papier ist alles geregelt, nur darf am Sonntag nicht mehr allzu viel schiefgehen. Dazu müssen insbesondere die beiden übrig gebliebenen Erfahrenen überzeugen. Das ist zum einen Andreas Toba, 28, den alle wegen seines Auftritts in Rio kennen, wo er die Deutschen im Wettkampf hielt, weil er trotz eines Kreuzbandrisses weiterturnte. Toba will aber lieber wegen seiner Turnkünste anerkannt werden, konkret wegen seiner Siege bei den deutschen Meisterschaften kürzlich und überhaupt wegen seiner Erfahrung. Der andere ist Dauser.

Er ist 26 Jahre alt, vielseitig und auch in der Lage, den drei Jüngeren - Karim Rida, 19, Nick Klessing, 21, und Ersatzturner Felix Remuta, ebenfalls 21 - ein Vorbild zu sein. Dauser hat am Barren schon mal EM-Silber errungen, er liebt wie die meisten Deutschen die Holme und das Fliegen und weniger die Brettfigur an den Ringen. Auch er hatte sich verletzt, ihm war Mitte Juni die Mittelhand gebrochen, er hatte sich aber mit Glück ("die Fäden kamen schon nach zehn Tagen raus"), mit Geduld und Vertrauen wieder zurückgearbeitet. Eine Fußverletzung hindert ihn noch beim Springen, weshalb er nur an drei Geräten turnt. Dauser hat also Disziplin und auch Erfahrung im Totschlagen von Zeit.

Das Geheimnis steckt weniger in aufwendiger Ablenkung als in bekannten, vertrauten Abläufen, die das Blei eines langen Nachmittags beiseiteräumen. Dauser behilft sich, klar, mit dem, was das Internet so hergibt, "vielleicht schau ich eine Serie oder ich spiele auf dem Handy". Vormittags frühstückt er spät, danach macht er ein paar Handstände zum Anschwitzen und gibt sich dem Alltag hin: Mittagessen, Schlafen, Kaffeetrinken, noch mal Duschen, Zeit tot.

Danach werden die fünf deutschen Qualifikationsturner die rund hundert Meter hinüberlaufen in die Halle, sie werden sich noch einmal aufwärmen und dann versuchen, in dieser Qualifikation unter die besten zwölf Nationen zu kommen, und das Männer-Turnen hierzulande im Fokus zu halten, indem es auch bei Olympia in Tokio vertreten ist. Und ganz nebenbei werden sie hoffen, damit ihrem verletzten Kollegen Nguyen die Möglichkeit zu verschaffen, nach Peking, London und Rio noch einmal bei Olympia dabei zu sein. "Das ist für uns alle ein Ansporn", sagt Dauser.

Vielleicht wäre die Technik des effektiven Zeitbesiegens auch im Wettkampf ein guter Ansatz, die Beruhigung durch Routine. Im Turnen ist Kampfgeist oft hinderlich. Und in einer solchen bedeutungsschweren Qualifikation vor eigenem Publikum geht es erst recht nicht darum, zu improvisieren oder über sich hinauszuwachsen. Sondern nur darum, das, was man geübt hat, sauber vorzutragen.

Ganz banal ist diese Aufgabe am Sonntag im Grunde, wie auch die Einschätzung von Lukas Dauser, der an eine andere, sehr wichtige Banalität erinnert: "Die Welt dreht sich danach weiter." Und trotzdem leistet auch er sich einen Aberglauben, er achtet am Morgen vor jedem Wettkampf peinlich genau darauf, dass er sich nicht vorwerfen muss, mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein, und wird also auch an diesem Sonntag in Stuttgart beide Fußsohlen - zack - gleichzeitig aufsetzen.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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