Turnen:Das Pferd besiegt

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(Foto: Marcelo Sayao/dpa)

Die deutschen Männer überzeugen überraschend am Angstgerät und qualifizieren sich im Test-Event für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro.

Von Volker Kreisl, Rio de Janeiro/München

Das deutsche Turnen hat seinen Top-Leuten viel zu verdanken. Sie haben die angestaubte Sparte vor vielen Jahren zurück ins Bewusstsein gebracht, eingeprägt haben sich die Namen Hambüchen, Boy, Nguyen. Doch an diesem Wochenende, als es um die letzte Chance für die Olympia-Teilnahme 2016 in Rio ging, als die Zeit des Staubes wieder drohte, da war es umgekehrt: Die Ersatzleute gaben den Ausschlag. Der Sieg von Rio stand nicht im Zeichen von Fabian Hambüchen, der verletzt zu Hause geblieben war, auch nicht von Marcel Nguyen. Der Name der Stunde lautet Ivan Rittschik.

Der 23 Jahre alte Nachrücker vom KTV Chemnitz (im Bild am Reck) hatte am Pauschenpferd einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Riege von Bundestrainer Andreas Hirsch erstens bei Olympia im August dabei sein wird, und dass sie sich zweitens nach einer fabelhaften Leistung wieder ein bisschen wie Weltspitze fühlen darf. 350,609 Punkte holte sie, fünf mehr als beim verkorksten Qualifikationsversuch im November in Glasgow. Deutschland gewann in Rio vor der Ukraine, den Niederlanden und Frankreich. "Die Jungs haben gebrodelt", sagt Hirsch.

Fünf Punkte klingt nach wenig, aber im Turnen mit seinen Nuancen in den Höchstschwierigkeiten machen fünf Mannschaftspunkte den Unterschied aus zwischen Staub und Glanz. Und im Prinzip haben sie ja auch alle zur Steigerung beigetragen: Die erprobten Rampenturner Nguyen (Unterhaching) und Andreas Bretschneider (Chemnitz) riefen das ab, was man von ihnen erwartete, die Hintergrundturner Andreas Toba (Hannover) und Lukas Dauser (Unterhaching) waren wie immer stabil. Und Rittschiks Beitrag stach besonders hervor. Denn er besiegte das Pferd.

Das Pauschenpferd ist das Angstgerät der Deutschen, nur wenige beherrschen die Rotationen auf den Griffen, auf denen man gefühlt endlos schwingen, umgreifen, übergreifen, sich drehen und drehen und schließlich einen Handstand machen sollte, wenn einem nicht, wie den Deutschen in Glasgow, die Kraft oder die Orientierung abhanden kommt. Doch der mit zehn Jahren aus Litauen eingewanderte Rittschik ist ein Pferdspezialist, in Rio zeigte er es. 14,966 Punkte holte er und gab vielleicht den entscheidenden Auftrieb.

Die Erleichterung ist so groß, weil die Zeit vor diesem Qualifikationstag so "ätzend" war, wie Hirsch es ausdrückte. Unklar war, wie nahe Nguyen, Bretschneider und Dauser nach ihren Verletzungen wieder ans alte Niveau herankämen, und dann fiel auch noch Hambüchen mit verletzter Schulter aus. Das war ein Schlag fürs Team, aber nicht so schwer, wie teils dargestellt. "Absoluter Quatsch, der da erzählt wurde", sagte Bretschneider. Und Toba erklärte: "Es heißt immer, ohne Fabi geht es nicht. Aber es geht halt auch ohne Fabi."

Sollte der Reck-Silber-Gewinner von London zu den deutschen Meisterschaften Ende Juni wieder fit sein, sollte sich vom Team niemand verletzen, dann hätte Hirsch für Rio wieder Optionen und einen internen Konkurrenzkampf. Nguyen sagt: "Wenn wir uns noch steigern und nur wenige Fehler machen, dann können wir als Team auch um Bronze kämpfen." Das ist sehr optimistisch, aber es beweist, dass die ätzende Zeit vorbei ist.

© SZ vom 18.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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