Türkei:Spott statt Hoffnung

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Trost vom Teamkollegen: Nach den Pfiffen der türkischen Anhänger versucht Spaniens Andres Iniesta (re.), seinen Mitspieler beim FC Barcelona, Arda Turan, aufzumuntern. (Foto: Valery Hache/AFP)

In der Türkei glaubt niemand an einen Sieg der Nationalmannschaft gegen Tschechien - aber Präsident Erdoğan stellt sich schützend vor das Team.

Nun ist es selbst Recep Tayip Erdogan zu viel geworden. Keinen Punkt hat die türkische Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Frankreich bislang gewonnen, kein Tor hat sie geschossen - vor allem aber genießt sie keinen Rückhalt mehr bei den eigenen Anhängern. Letzteres veranlasste das türkische Staatsoberhaupt zu einer Reaktion. Vor dem letzten Gruppenspiel der Türken am Dienstag in Lens gegen Tschechien (21 Uhr/Sat.1) rief der umstrittene Präsident alle Beteiligten zu mehr Geschlossenheit auf. Vor allem die Häme für Barça-Profi Arda Turan, der von den Tribünen bei der 0:3-Niederlage gegen Spanien bei jedem Ballkontakt von den eigenen Fans ausgebuht worden war, empfand Erdogan als unpatriotisch: "Er ist unser Sohn, unser Bruder, der zur besten Mannschaft der Welt gewechselt ist. Schämt ihr euch nicht?"

Zum Leidwesen von Erdogan ist vom einstigen Stolz der Türken auf ihre Nationalmannschaft nach den Niederlagen gegen Kroatien (0:1) und Spanien nur wenig geblieben. Vor dem letzten Gruppenspiel gegen Tschechien ist der Achtelfinaleinzug nur noch theoretisch machbar. "Das hat mich als Staatspräsident sehr traurig gemacht", kommentierte Erdogan die Stimmung unter den türkischen Fans. Vor dem Gruppen-Showdown nahm er nicht nur die Profis, sondern auch Trainer Fatih Terim demonstrativ in Schutz. Die vielen spöttischen Kommentare in den sozialen Medien, vor denen auch die schwangere Tochter Terims nicht verschont blieb, bezeichnete Erdogan als "inakzeptabel": "Das sind ganz große Unverschämtheiten. So etwas darf nicht sein."

"Die Türkei ist auf jeden Fall der schwächste Gegner."

Angesichts der Stimmung um das Nationalteam wird ein Abschlusserfolg gegen Tschechien noch unwahrscheinlicher als er ohnehin schon ist. Medienberichte über Querelen innerhalb der Mannschaft runden das Bild ab. Das Team um die Bundesligaprofis Hakan Calhanoglu (Leverkusen), Yunus Malli (Mainz) und Nuri Sahin (Dortmund), der während des Training am Sonntag nur eine Reha-Einheit absolvierte, ist bislang eine der großen EM-Enttäuschungen. Um noch ins Achtelfinale einzuziehen, müssen die Türken möglichst hoch gegen Tschechien gewinnen und zudem darauf hoffen, dass nicht noch vier andere Gruppendritte am Ende der Vorrunde am Mittwoch besser sind. Angesichts der bisherigen Leistungen ist allerdings kaum vorstellbar, wer die Tore schießen soll. Tschechien hat zwar auch erst einen Punkt ergattert, geht aber als Favorit ins Spiel. "Die Türkei ist auf jeden Fall der schwächste Gegner in der Gruppe", sagte der tschechische Verteidiger Pavel Kaderabek von 1899 Hoffenheim.

Die Türken hatten sich glücklich und erst in am letzten Spieltag als Dritter ihrer Gruppe für die EM qualifiziert. Dennoch war die Stimmung vor dem Turnier euphorisch gewesen. Doch nach nur 180 EM-Minuten ist die Stimmung wieder ins krasse Gegenteil umgekehrt. "Danke türkische Nationalmannschaft, dass ihr uns blamiert habt. Danke Fatih Terim, dass du solch einen Kader nominiert und aufgestellt hast", spottete der frühere Schiedsrichter Erman Toroglu in seiner Kolumne für die Tageszeitung Sabah. Nationaltrainer Terim hatte sich nach dem Spiel gegen Kroatien für die Leistung, die in seinen Worten nach "Aufgeben" aussah, entschuldigt. "Niemand soll daran zweifeln, dass ich das tun werde, was nun nötig ist", sagte der Coach, der die Türkei bei der EM 2008 ins Halbfinale gegen Deutschland geführt hatte. Viel brachte es nicht: Medien interpretierten dies bereits als eine versteckte Rücktrittsankündigung.

© SZ vom 21.06.2016 / dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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