Torwart:Lehmanns Liste

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Mit einer Datenbank von Huub Stevens hat sich der Torwart perfekt auf das Elfmeterschießen gegen Argentinien vorbereitet.

Philipp Selldorf

Nach dem Elfmeterschießen erstattete Oliver Bierhoff eine Vermisstenmeldung. "Wo ist Jens Lehmann?", erkundigte er sich beim für die Torhüter zuständigen Aufseher Andreas Köpke. Der konnte zwar keine Ortsangabe bieten, dafür aber eine hinreichende Zustandsbeschreibung: "Jens ist fix und fertig."

"Jens ist fix und fertig" - Lehmann mit Odonkor im Arm nach dem Elfmeterschießen. (Foto: Foto: dpa)

Der Held des Abends war dem Freudentaumel auf der schnellsten Route entkommen. Den ersten Gratulanten David Odonkor, der ihm geradewegs an die Brust gehüpft war, schüttelte er von sich wie ein Bulle den Rodeoreiter, dann löste er sich aus der Menge und lief Richtung Ausgang. Zeit nahm er sich unterwegs lediglich noch, um Oliver Kahn für dessen Solidarität vor dem Shootout zu danken.

Hypnotischer Zustand

Bis er sich in der Kabine wieder erholt hatte, befand sich Lehmann offenbar in einem hypnotischen Zustand, den nur Artgenossen nachempfinden können. "Man ist als Torwart in einem Tunnel, und dann will man einfach nur weg", erläuterte Köpke, was Bierhoff staunen ließ: "Das kann man als Stürmer gar nicht nachempfinden, ich hab mich einfach gefreut."

Die Mitspieler erlebten ihren Schlussmann wenig später wieder freundlich und entspannt, aber keineswegs ausgelassen. Er saß einfach nur in einer Ecke, während die laute Musik von DJ Asamoah den Raum erfüllte und rastloses Getümmel herrschte. "Er ist ein stiller Genießer", mutmaßte deshalb Angreifer Mike Hanke. "Das ist eine Sache, die mit dem Alter kommt", weiß Oliver Bierhoff.

"Man freut sich natürlich, aber man hat gar keine Zeit dafür, weil man in Gedanken schon beim nächsten Spiel ist." Diese permanente Getriebenheit des Wettkämpfers leuchtet auch den Jüngeren ein, wie Hanke, 22, bestätigt: "Ich glaube, dass auch Jens richtig glücklich ist. Aber er weiß, dass das noch nicht alles ist. Wenn wir den Pokal haben, dann feiert er richtig."

Nicht das erste Mal

Wenn Deutschland den Pokal gewinnt, dann hat daran auf jeden Fall ein Niederländer einen wichtigen Anteil. Lehmann übt den Beruf des Elfmeterkillers schon viele Jahre aus, 1997 verhalf er damit Schalke 04 beim zweiten Uefa-Cup-Endspiel gegen Inter Mailand im Meazza-Stadion zum Sieg.

Den Elfmeter von Ivan Zamorano wehrte er ab, und den Fehlschuss von Aaron Winter provozierte er - angeblich unwiderstehlich - durch ein paar gezielte Einflüsterungen. Anschließend feierte ganz Schalke den Torwart als Helden. Lehmann aber dankte dem Computer von Huub Stevens: "Der Trainer hat in seinem Laptop sämtliche Schussvarianten von Inter gespeichert und mir davon einen Spickzettel gemacht."

Als Lehmann am Freitag die deutsche Elf ins Halbfinale hievte, indem er Roberto Ayala und Esteban Cambiasso mit seinen Paraden um den Verstand brachte, beruhte das wieder auf präziser Vorbereitung und einem typischen Fall deutscher Gründlichkeit.

Zweite Informationsquelle

Anregungen zur Abwehr hatte er bereits durch den schweizerischen Chefscout Urs Siegenthaler erhalten. Lehmann nahm aber auch wieder die Nachrichtendienste seines alten Schalker Trainers in Anspruch, schon vor dem Achtelfinale gegen Schweden erwähnte er geheimnisvoll eine zweite Informationsquelle neben dem offiziellen DFB-Späher, die nun eindeutig als Firma Stevens & Sohn enttarnt ist.

"Er hatte Kontakt zu Huub Stevens, dessen Sohn Maikel hat eine Datenbank erstellt. Er hat Jens Informationen zukommen lassen über die argentinischen Kandidaten", erklärte Bierhoff.

Die Informationen wertete Lehmann mit Köpke aus, und wie einst in Mailand wurden die wichtigsten Daten auf einem Zettel notiert. Darauf stand außer den bevorzugten Ecken der Schützen, dass er bei Ayala aufs Schussbein achten und bei Cambiasso geduldig stehen bleiben solle.

Psychologische Kriegsführung

Sein heimliches Wissen veredelte Lehmann noch durch einen Akt psychologischer Kriegsführung, indem er im Angesicht der Duellanten mit demonstrativer Aufmerksamkeit den mysteriösen Zettel studierte. Theorie und Praxis wurden damit eins, ganz anders als bei den bedauerlichen Engländern, die sich ebenfalls für das Elfmeterschießen präpariert, aber den falschen Weg gewählt hatten.

Angeblich stundenlang hatten sie im Training geübt, Torwart Robinson hatte seinen Mitspielern sogar besondere Auflagen gemacht: Sie sollten die Ecke ansagen, in die sie schießen.

Das Ergebnis ist bekannt: Englische Spitzenprofis, die ansonsten ohne das Gesicht zu verziehen die furchtbarsten Verletzungen ertragen, heulten wie Kinder. Die deutschen Spieler aber, die im Training eher spaßeshalber ein paar Elfmeter geschossen hatten, hauten wie selbstverständlich jeden Ball ins Tor, und ihr Torwart erklärte, als er eine knappe Stunde nach dem Triumph aus der Kabine kam: "Ich gehe jetzt nach Hause und bereite mich aufs nächste Spiel vor."

Lehmanns Spickzettel aber könnte als besondere Reliquie einen Platz im geplanten Museum des Deutschen Fußball-Bundes finden. "Wir werden ja immer dazu angehalten, Dinge fürs DFB-Museum aufzubewahren", erzählte Bierhoff, "ich muss Jens mal fragen, wo er ihn hat."

Das Museum soll übrigens möglicherweise in Gelsenkirchen entstehen. Könnte es nach dieser Vorgeschichte einen besseren Ort für Lehmanns Zettel geben?

© SZ vom 3.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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