Tischtennisturniere in China sind eine recht einseitige Sache. Spieler aus Europa dürfen zwar antreten, eine Chance haben sie aber nicht. Schaut man die Siegerliste der China Open der vergangenen Jahrzehnte durch, finden sich dort genau drei Europäer: 1993 gewann der Belgier Jean-Michel Saive in Hangzhou. 1997 der Kroate Zoran Primorac in Zhuhai. Und 2006 konnte Timo Boll in Guangzhou triumphieren. Sonst nur Chinesen - knapp drei Dutzend Siege. Bei den Frauen ist die Bilanz noch deutlicher: 38 Mal wurde das Turnier ausgetragen, 38 Mal gewannen Spielerinnen aus der Volksrepublik.
Dass diese Tradition auch in diesem Jahr nicht gestört wird, davon war man fest ausgegangen in China. Die ersten vier der Weltrangliste bei den Männern sind schließlich Chinesen. Und selbst viele der guten europäischen Spieler stammen ursprünglich aus China. Sie sind ausgewandert und haben die Nationalität gewechselt. Zuhause waren sie nicht stark genug.
Die Halle in Chengdu war dementsprechend ausverkauft am Sonntag, und das Endspiel wurde natürlich live im Staatsfernsehen übertragen. Doch an der Platte standen im Herreneinzel keine Chinesen, sondern zwei Deutsche: Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov. Letzterer setzte sich am ende mit 4:3 Sätzen knapp durch. Nach seinem Sieg konnte Ovtcharov sich gar nicht richtig freuen, Selbstgespräche führend lief er durch die Halle. Ganz verdattert wirkte er. Denn auch er weiß, sportlich liegen die Chinesen vorn.
Normalerweise hätte Ovtcharov im Viertelfinale gegen den Olympiasieger und Weltmeister Ma Long antreten müssen. Ma hatte erst vor drei Wochen seinen Weltmeistertitel in Düsseldorf verteidigt. Er ist die Nummer eins der Welt. Dass Ovtcharov jedoch nicht gegen Ma spielen musste und er nun als vierter Europäer auf der Siegerliste steht, ist das Resultat massiver Verwerfungen im chinesischen Tischtennisverband. Ein Skandal, über den inzwischen das ganze Land spricht.
Am Dienstag war überraschend Nationaltrainer Liu Guoliang abgesetzt worden. Vize-Chef des Verbandes soll er künftig sein - ein Frühstücksdirektoren-Posten. Aus Solidarität mit ihrem Trainer traten deshalb am Freitag Ma Long und seine Mannschaftskameraden Fan Zhendong (Nummer zwei der Weltrangliste) und Xu Xin (Nummer drei) nicht zu ihren Achtelfinalspielen an. Beim Kurznachrichtendienst Weibo, dem chinesischen Twitter, veröffentlichten sie gleich drei identische Posts: "In diesem Moment haben wir keine Lust zu kämpfen... alles nur weil wir dich vermissen, Liu Guoliang!" Rebellion in Chengdu!
Im Zentrum der Krise stehen zwei Kompagnons aus alten Tagen
Die Beamten im Sportministerium schäumten. "Sie haben ihr Berufsethos und den Nationalstolz ignoriert und sich respektlos gegenüber dem Publikum und den Gegnern verhalten", hieß es in einer Mitteilung. Das chinesische Team veröffentlichte schließlich eine Entschuldigung. Sie hätten ihre Spiele "aus einem Impuls heraus aufgegeben, ohne sich der Details der Umstrukturierung und der Auswirkungen im Klaren zu sein".
Im Zentrum der Krise stehen zwei Kompagnons aus alten Tagen. Der gegen seinen Willen beförderte Ex-Nationaltrainer Liu und Kong Linghui, bis Ende Mai Übungsleiter der chinesischen Damenauswahl. Beide werden in China verehrt. Nach einer Schwächephase des chinesischen Tischtennis in den Achtziger- und Neunzigerjahren, als Schwedens Ausnahmegeneration um Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson den Sport dominierte, waren es Liu und Kong, die die Volksrepublik wieder an die Weltspitze führten. Kong wurde in Sydney 2000 Olympiasieger im Einzel. Vier Jahre zuvor in Atlanta hatte er im Finale gegen seinen Kumpel Liu verloren. Auch im Doppel waren die beiden höchst erfolgreich - natürlich gemeinsam. In Atlanta gab es Gold, in Sydney Silber.
Bei den China Open ist ihre Bilanz besser als die aller Europäer. Liu siegte einmal im Einzel und drei Mal im Doppel. Kong gewann sogar zwei Mal das Einzelfinale und vier Mal im Doppel. Seitdem ist er ein Nationalheld in China. Bis er vor vier Wochen als Trainer beurlaubt wurde.
2015 soll Kong sich in einem Luxushotel in Singapur umgerechnet etwa 650 000 Euro geborgt und dann im Kasino verzockt haben. Nachdem er offenbar Schwierigkeiten hatte, das Geld zurückzuzahlen, verklagte ihn der Geschäftsführer des Hotels. 300 000 Euro soll Kong säumig sein. Zunächst bestritt Kong jegliche Verwicklung in die Affäre. Die Spielschulden hätten Freunde und Verwandte gemacht, schrieb er auf Weibo. Es half nichts. Der Verband suspendierte ihn und kündigte einen Umbau des Trainerstabs an. Dieses Großreinemachen hat nun auch den Herrentrainer erwischt. Und möglicherweise gibt es noch weitere Opfer. Am Sonntag teilte der Weltverband ITTF mit: "Die ITTF wird den Fall weiter untersuchen, bevor irgendeine Entscheidung getroffen wird, aber im Moment ist jede mögliche Strafe auf dem Tisch." Im schlimmsten Fall wäre China dann weiterhin das Maß der Dinge im Tischtennis, aber die Titel gehen vorübergehend an andere.