Tennis-Finale der US Open:Der miese Verräter Zufall

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Alexander Zverev lässt diverse Chancen aus und ermöglicht Dominic Thiem den ersten Grand-Slam-Titel. Die Frage bleibt: Was wird dieses sonderbare Endspiel eines ohnehin sonderbaren Turniers mit den Finalisten anstellen?

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Exakt vier Stunden waren gespielt in diesem Endspiel bei den US Open, und die Regeln verlangten, dass beide Spieler bei 6:6 im Tie-Break des entscheidenden fünften Satzes die Seiten wechseln. Wer fühlte sich da nicht erinnert an die Pause zwischen der 14. und 15. Runde beim Thrilla in Manilla? Muhammad Ali wollte 1975 aufgeben, weil er, wie er später sagte, dem Tode nie so nahe gewesen sei wie in diesem Moment. Sein Trainer Angelo Dundee jedoch verweigerte die Kapitulation, während in der anderen Ringecke der Coach von Joe Frazier beschloss, dass es nun genug sei. Ali obsiegte, obwohl er keine Sekunde mehr hätte kämpfen können. Er war fertig, physisch und psychisch.

Dominic Thiem und Alexander Zverev kapitulierten nicht, obwohl beiden anzumerken war, dass sie körperlich und geistig völlig ausgelaugt waren. Beide plagten Krämpfe in den Beinen, doch bei beiden sagte eine Stimme im Kopf, das nach 320 Ballwechseln nun zwei Punkte nacheinander zum Sieg reichen würden. Die gelangen Dominic Thiem, nach erfolgreichen Ballwechseln endete diese Partie 163:159, das für Tennis relevante Ergebnis lautete 2:6, 4:6, 6:4, 6:3, 7:6 (6). Thiem sackte an der Grundlinie zu Boden, Zverev musste diesen unendlich langen Marsch zur Gratulation des österreichischen Gegners antreten, die paar Schritte waren beschwerlicher als die 5138 Meter, die er während des Endspiels gelaufen war.

Es gehört zu den sonderbarsten Eigenheiten des Sports, dass sich jemand trotz des größten Erfolges in der Laufbahn so miserabel fühlt wie noch nie zuvor. Fans kennen das Paradoxon, wenn ihnen etwa Anhänger des FC Bayern versichern, dass sie trotz aller Titel ihres Vereins schlimmer leiden würden als alle anderen. Wenn ihnen jemand den Vogel zeigt, beschreiben sie zum Beispiel die bitteren Niederlagen in den Champions-League-Endspielen von 1999 und 2012. Man fragt sich dann, was das eigentlich mit jemandem anstellt, der so etwas nicht auf der Tribüne, sondern auf dem Platz erlebt hat. Wenn einer unfassbar erfolgreich ist und sich doch als Verlierer fühlt. Oder wenn einer nach drei Niederlagen in Endspielen endlich siegt.

Alexander Zverev hatte das Finale bei den US Open erstmals erreicht, so weit war er zuvor bei einem Grand-Slam-Turnier noch nie gekommen. Er hat es indes auf schlimmstmögliche Weise verloren, im Tie-Break des fünften Durchgangs. Wer ihm danach beim Video-Gespräch mitteilte, dass er stolz sein möge auf das Erreichte, den sah Zverev an, als hätte ihm jemand gesagt, dass er sich über eine Wurzelbehandlung freuen solle. Er brauche ein paar Tage, das Erlebte zu verarbeiten, und dann wiederholte er, was da gerade passiert war: "Ich habe ein Grand-Slam-Finale im Tie-Break des fünften Satzes verloren."

Es war ein denkwürdiges Endspiel in New York, Sportpsychologen dürften Jahre brauchen, es zu entschlüsseln, weil sich keinesfalls eindeutig wird klären lassen, wann und vor allem wie es entschieden wurde: Kam es so, weil Zverev nach dem guten Start den zweiten Satz nicht konsequent zu Ende gespielt, sondern seinem Gegner ein erstes Break und damit Hoffnung auf eine Wende geschenkt hatte - wie ein Boxer, der nach dem Niederschlag nicht nachsetzt, sondern dem Gegner das Erreichen der Pause erlaubt? War es das Re-Break für Thiem im dritten Durchgang? Die verpasste Chance von Zverev, der bei 5:3 im fünften Satz zum Turniergewinn aufschlagen durfte? War es der erste Doppelfehler im Tie-Break? Oder der zweite? Oder hat Thiem am Ende womöglich diese beiden Punkte nacheinander gemacht, weil es ja irgendwann einem gelingen muss und es an diesem Tag eben Thiem gewesen ist? Der Zufall, dieser miese Verräter, wird oft unterschätzt bei der Spielanalyse.

All das führt zur Frage: Was wird dieses sonderbare Endspiel eines ohnehin sonderbaren Turniers mit den beiden Finalisten anstellen?

Beide hatten die Chance auf den jeweils ersten Grand-Slam-Titel der Karriere, und sie mussten dabei keinen der drei Dauersieger des Tennis schlagen: Der Schweizer Roger Federer, der es auf 20 Grand-Slam-Trophäen bringt, und der Spanier Rafael Nadal (19 Grand-Slam-Titel) waren erst gar nicht nach New York gereist, Novak Djokovic aus Serbien (17) hatte sich im Achtelfinale durch einen Regelverstoß selbst aus dem Turnier genommen. Thiem hatte seine ersten drei Grand-Slam-Endspiele, die er erreichte, verloren, zwei gegen Nadal und eins gegen Djokovic. Die Reaktion nach dem verwandelten Matchball war deshalb nicht Freude, sondern "riesige Erleichterung", wie er sagte: "Der ganze Druck ist abgefallen, und ich hoffe, dass mich der Titel ein wenig lockerer macht."

Thiem ist mit 27 Jahren der Älteste der so genannten Next Generation. Angesichts des Jungbrunnens, in den die großen Drei immer wieder plumpsen, und angesichts zunehmend stärker spielender junger Profis fragte er sich bereits, ob das trotz seiner 17 Turniersiege auf der Tennistour noch einmal was werden würde mit dem großen Triumph. "Ich bin sehr stolz auf meine Karriere bisher, aber der große Titel hat gefehlt, und ich habe mich nach dem Break im fünften Satz schon gesehen: viertes verlorenes Finale ohne Sieg", erzählte er danach: "Das Thema ist nun abgehakt, und ich erwarte schon, dass mir das hilft und dass ich die großen Turniere jetzt ein bisschen lockerer angehen kann."

Das führt direkt zu Zverev, dessen Leben seit 15 Jahren darauf ausgelegt ist, Grand Slams zu gewinnen. Seit 2017 steht er in den Top Ten der Weltrangliste, er hat elf Turniere gewonnen, in diesem Jahr erreichte er bei den beiden bisherigen Grand-Slam-Turnieren das Halbfinale in Melbourne und nun das Endspiel in New York.

Das Klopfen an der Tür zum großen Triumph wird lauter, und wenn er in ein paar Tagen über dieses sonderbare Finale bei diesem sonderbaren Turnier reflektiert, dann dürfte er feststellen, dass er sich spielerisch und mental erheblich verbessert hat. Was viele vergessen angesichts der vielen Erfolge: Zverev ist erst 23 Jahre alt. "Ich weiß, dass dies nicht meine letzte Chance war", sagte er. Was Fans des FC Bayern, zu denen auch Alexander Zverev gehört, bei ihrer Jammerei über verlorene Endspiele gern verschweigen, aber natürlich wissen: Es dauerte nach diesen so bitteren Niederlagen nicht lange, bis sie die Champions League gewannen.

© SZ vom 15.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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