Tennis:Die Tücke des Pflastersteins

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Pragmatiker am Ball: Wer schlecht spielt und gewinnt, hat die Chance, beim nächsten Mal besser zu spielen, sagt Rafael Nadal. (Foto: Clive Brunskill/AFP)

Erstaunlich viele Herausforderer sind bei den US Open bereits in der ersten Woche gescheitert. Dabei hätte das Tennisturnier in New York aufgrund zahlreicher Absagen ihre große Chance sein können.

Von Jürgen Schmieder, New York

Roger Federer ist nicht nach Alpe d'Huez geradelt an diesem Tag, aber nach dem 6:1, 6:7, 4:6, 6:4, 6:2-Sieg gegen den Russen Michail Juschni sah er fast so aus, als habe er gerade dieses berüchtigte Teilstück der Tour de France bewältigt. Er hatte sich anstrengen müssen beim Tennis, mehr als drei Stunden lang, er absolvierte 317 Ballwechsel und lief 3335 Meter. Danach stand er mit typischem Tour-de-France-Gesicht - ausgemergelte Wangen, spröde Lippen, tiefe Augenringe - auf dem Platz und erklärte, dass er die beiden Fünfsatzpartien zu Beginn der US Open gar nicht mal so schlimm finden würde: "Ich bin ein bisschen müder als sonst in der dritten Runde, aber das ist schon okay. Ich habe das schon hundertmal erlebt."

Das stimmt nicht, Roger Federer erlebte es zum ersten Mal, dass er bei einem Grand-Slam-Turnier in den ersten beiden Partien jeweils die volle Satzdistanz bewältigen musste. Aber es scheint tatsächlich okay zu sein, der Schweizer Ausnahmespieler ist mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs gesegnet. Womöglich hat er das Buch Hagakure - Der Weg des Samurai gelesen, das den prächtigen Satz enthält: "Wenn man es aber einmal als natürlich hinnimmt, im Regen nass zu werden, kann man mit unbewegtem Geist bis auf die Haut durchnässt werden." Ein paar Beispiele? Federer über den Lärm in der New Yorker Arthur-Ashe-Arena bei geschlossenem Stadiondach: "Ich fand es überhaupt nicht schlimm. Als die Fans begeistert mitmachten, fand ich das eher cool." Federer über die verkürzte Vorbereitung auf die US Open wegen seiner Rückenverletzung: "Ich wusste schon, dass ich in den ersten Partien ein paar Probleme bekommen würde." Über die Fünf-satzspiele: "Solche Schlachten machen doch Spaß, auf jeden Fall bin ich jetzt aufgewärmt." Und über den weiteren Turnierverlauf: "Ich bin noch dabei, also habe ich noch eine Chance."

Federer ist noch dabei, diese Nachricht kann man mit unbewegtem Geist hinnehmen. Rafael Nadal ist ebenfalls noch dabei, er hat gegen Taro Daniel aus Japan am Ende überzeugend 4:6, 6:3, 6:2, 6:2 gewonnen - auch das dürfte kaum einen Geist bewegen. Verblüffender und interessanter ist vielmehr, wer nach zwei Runden nicht mehr dabei ist: Alexander Zverev, Grigor Dimitrov, Nick Kyrgios, Tomas Berdych, Jack Sock, Jo-Wilfried Tsonga, David Ferrer, Marin Cilic.

Hieß es nicht angesichts der Absagen von Stan Wawrinka, Novak Djokovic, Andy Murray, Kei Nishikori und Milos Raonic, dass dieses Turnier eine seltene Chance bieten würde für all jene, die endlich auch mal ein Grand-Slam-Turnier gewinnen wollen oder wenigstens zum ATP-Finale der acht besten Spieler der Saison nach London reisen möchten?

Von Punkt zu Punkt zu denken: Das klingt wie ein Klischee, aber es ist Federers Erfolgsstrategie

Natürlich gibt es individuelle Gründe für das Scheitern der gesetzten Spieler, sie müssen jeweils unabhängig voneinander analysiert werden: Zverev begegnete bereits dem ersten Regentropfen mit bewegtem Geist. Dimitrov rechnete angesichts der Erfolge zuletzt nicht damit, dass es jemals wieder regnen könnte. Der Geist von Kyrgios ist ohnehin andauernd bewegt. Es gibt jedoch ein Muster zu erkennen: All diese Akteure waren nicht in der Lage, Partien für sich zu entscheiden, in denen sie nicht wie gewünscht agierten. Wer jedoch ein bedeutsames Turnier gewinnen möchte, der sollte genau das können: Boris Becker in der zweiten Runde der US Open 1989 gegen Derrick Rostagno. Angelique Kerber in der ersten Runde der Australian Open 2016 gegen Misaki Doi. Federer am Donnerstagnachmittag.

"Ich finde einen Weg, weil ich nicht mehr panisch werde", sagte er danach: "Als junger Spieler habe ich mal in der ersten Runde der French Open einen Satz gegen Luis Horna verloren. Plötzlich habe ich das Match wie einen Berg betrachtet. Und ich habe hinter diesem Berg noch sechs weitere Berge gesehen, die ich hätte besteigen müssen, um das Turnier zu gewinnen. Das war der völlig falsche Gedanke." Federer verlor damals die nächsten beiden Sätze und schied aus: "Ich hätte mich einfach auf die nächste Vorhand konzentrieren sollen."

Natürlich behaupten Sportler häufig, dass sie sich nur auf sich konzentrieren wollen. Auf das nächste Match. Den nächsten Punkt. Sie sagen diese Dinge, weil es sich ordentlich anhört und sie dann nichts anderes sagen müssen. "Die Punkt-für-Punkt-Mentalität hilft mir ungemein", sagt Federer: "Dieses schlichte Gemüt sorgt dafür, dass ich nicht abhebe, sondern bescheiden bleibe. Ein Punkt ist nur ein Punkt, man macht danach einfach weiter." Ist es möglich, dass Federer das nicht nur so sagt, sondern tatsächlich so meint? Er verschwendet keine Gedanken an Turniersieg und Weltrangliste, weil das von selbst kommt, wenn er möglichst viele nächste Punkte und Partien gewinnt.

Auch die Besten erleben noch Premieren, zwei Fünfsatzmatches gleich zu Beginn zum Beispiel

Ein Grund für das Scheitern zahlreicher gesetzter Spieler bei diesen US Open könnte sein, dass ihnen Beobachter und womöglich auch sie selbst eingeredet haben, dieses Turnier von Beginn an perspektivisch zu betrachten und diese einmalige Chance zu erkennen. Sie haben womöglich über Alpe d'Huez oder gar die Champs-Élysées nachgedacht, jedoch den Pflasterstein direkt vor ihnen übersehen. Das könnte wiederum jungen Akteuren wie Denis Shapovalov, Andrej Rublew oder Borna Coric bei ihren überraschenden Erfolgen geholfen haben. Die scheren sich noch nicht um Grand-Slam-Siege und Perspektiven, die wollen einfach die nächste Partie gewinnen.

Wie kann sich ein Tennisspieler diese kindliche Naivität zurückholen, wenn er sie einmal verloren hat? "Es hilft mir, solche Momente schon mal erlebt zu haben", sagt Roger Federer: "Ich habe viel gelernt aus den Partien, die ich verloren habe. Dimitrov und Zverev werden aus diesen Niederlagen eine ganze Menge ziehen können. Ich hoffe, dass sie das Positive erkennen." Erfahrung also. Wer mit den älteren Spielern auf der Setzliste spricht, der bemerkt, dass viele ein gewisser Gleichmut eint. Philipp Kohlschreiber findet den Verkehr in New York schon in Ordnung, Juan Martin del Potro, der Sieger der US Open 2009, besitzt ohnehin einen stets unbewegten Geist - und der Spanier Rafael Nadal präsentiert diesen unvergesslichen Satz: "Wenn ich schlecht spiele und gewinne, dann bedeutet das die Chance, beim nächsten Mal besser zu spielen."

Natürlich können auch erfahrene Akteure noch Neues erleben. Zwei Fünfsatz-matches in den ersten beiden Runden etwa oder die erste Begegnung bei den US Open mit dem ewigen Rivalen, sollten Rafael Nadal und Roger Federer am kommenden Freitag das Halbfinale erreichen. Aber ganz ehrlich: Wer will jetzt schon so weit denken?

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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