Start der 44. Saison:Zurück auf dem Platz

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Wochenlang war Deutschland - dank der Weltmeisterschaft - fußballbesoffen. Jetzt fängt die Bundesliga an, und ein einfaches Spiel findet wieder zu sich selbst.

Holger Gertz

Vor ein paar Tagen hat der Hamburger SV bei Werder Bremen gespielt, in einem Wettbewerb, der sich Ligapokal nennt. Der Ligapokal ist nicht wichtig, das Spiel zu sehen und es zu vergessen war eins, aber hinterher gab es dieses Gespräch.

Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt: Oliver Kahn und sein FC Bayern starten in die neue Bundesliga-Saison. (Foto: Foto: AP)

Der so genannte Fieldreporter von Premiere wollte von den Hamburger Profis Vincent Kompany und Boubacar Sanogo eine Einschätzung der Gründe für die knappe Niederlage, und Kompany sagte sinngemäß: "Ich hab manchmal schon vorher ein scheiße Gefühl, weiss' du." Sanogo sagte: "Wir müssen ein gutt Champions League machen."

Der Reporter bedankte sich und gab bald zurück ins Studio. Das Gespräch war ein typisches Fußballgespräch. Ein Reporter stellt die immer gleichen Fragen und kriegt keine Antwort, weil der befragte Trainer nichts sagen will.

Oder er kriegt eine Antwort, die aber keiner verstehen kann, weil die befragten Spieler noch nicht so gut Deutsch können und deshalb so reden, wie es der legendäre flummiartige Brasilianer Ailton immer macht.

"Musse konzentrier' für Mannschaff", sagt Ailton, mit diesem einen Satz ist er praktisch durch seine gesamte Bundesligakarriere gekommen. Er sagt den Satz immer, weil er immer passt.

Die Chance, den rauen, echten Charme zurückzugewinnen

Nicht mal in der Politik gibt es so viele sinnlose Interviews wie im Fußball. Das Fernsehen entwickelt den Fußball nicht als Phänomen, das ausgeleuchtet, verstanden, analysiert werden soll. Ein Fußballspiel ist keine Steuererklärung. Der Fußball ist ein großes Gefühlskino, vermutlich war er es noch nie so sehr wie im Moment, wo die Bundesliga in ihre 44.Saison startet.

Es ist eine besondere Saison, die erste nach der Weltmeisterschaft, die ihrerseits ein Gefühlskino war, die Mutter aller Gefühlskinos. Jetzt kommt der Ligaalltag, und vielleicht bietet er dem Fußball die Chance, seinen rauen, echten Charme zurückzugewinnen.

Im Fernsehen aber machen sie sich andere Gedanken. Wie kann man die Euphorie der Weltmeisterschaft in die Liga rüberretten? Das ist die größte Frage von allen, vergangenen Sonntag wurde sie wieder in der Sendung "Doppelpass" im Deutschen Sport Fernsehen DSF gestellt. Der Doppelpass ist eine Art Frühschoppen von elf bis eins, bei dem sich Fachleute über Fußball zu unterhalten versuchen, wobei auch der Moderator Jörg Wontorra und Udo Lattek mit am Tisch sitzen.

Vor allem Lattek, vor vielen Jahren mal sehr erfolgreich Trainer, ist darum bemüht, jeden Brocken Analyse aus seinen Vorträgen herauszuhalten, was ihm in der Regel gelingt. Verstärkt profiliert er sich zuletzt als Oberbeauftragter des Phrasenschweins, in das die Diskutanten drei Euro werfen, wenn ihnen eine Plattitüde in die Rede gerutscht ist, "das Runde muss in das Eckige", "ganz nah an der Mannschaft", solche Sachen.

Die Frauen haben bei der WM ihren Beitrag geleistet

Vergangenen Sonntag war auch der Fernsehmann Waldemar Hartmann zu Gast, und schnell war man beim Thema: Man müsse, um die Euphorie zu retten, die Frauen bei der Stange halten, sagte einer, gleich setzte säftelndes Altherrengebrabbel ein, die Begriffe Frau und Stange machten in dieser Kombination die Fußballexperten sehr munter, und irgendwann brachte Hartmann das Ganze auf den Punkt, indem er vom Wesen der Tabledance-Bar zu reden begann. Es war ein typisches Fußballgespräch älterer Männer, in dem an Frauen vor allem in sexuellem Zusammenhang gedacht wird.

Die Frauen haben bei der WM ihren Beitrag geleistet mit ihrem "Wir wolln ein Kind von dir"-Geschrei auf den Fanmeilen, mit ihren bemalten Bäuchen, mit den BH-Körbchen in Fußballform, mit den flachen Witzen der angeblichen Komikerin Nadine Kunze in der schrecklichen Comedy "Nachgetreten" im ZDF. Die Fernsehsender haben diesen Typus Frau bei der WM gern ins Bild genommen und darauf verzichtet, als Ausgleich deutsche Nationalspielerinnen als Experten in der Halbzeit aufzubieten.

Die sind in echt, was die Männer nur in den Herzen der Fans sind: Weltmeister. Und über Taktik reden können Nia Künzer und Ariane Hingst fast so wie Jürgen Klopp, bestimmt verständlicher als Günter Netzer, jedenfalls als jener Günter Netzer in seiner Rolle als Mummelgreis der ARD.

Zwischendurch eine kurze Begriffsklärung. Der Begriff Euphorie - im Zusammenhang mit Fußball inzwischen ein Kandidat für das Phrasenschwein - wird von Medizinern anders verstanden als von Fußballmenschen. Das "Roche Lexikon Medizin" definiert Euphorie als gesteigertes, dem objektiven Zustand nicht entsprechendes Lebens- und Glücksgefühl. Also, man belügt sich irgendwie selbst, wenn man euphorisch ist.

So was kann man während fünf Wochen Weltmeisterschaft durchhalten, aber nicht über ein dreiviertel Jahr Bundesliga. Schon gar nicht im Winter, wenn die Fußballer langärmlige Trikots anhaben und kleine Wölkchen atmen und der Schnee von der Latte platscht, wenn ein Ball dagegen fliegt.

Bei der Weltmeisterschaft wurde der Partyfan gezeigt. Er saß in der ZDF-Arena in Berlin bei Kerner und schwenkte ZDF-orangene Ballons. (ZDF-Mitarbeiter waren während der Weltmeisterschaft stolz darauf, zu erzählen, dass ZDF gar nicht Zweites Deutsches Fernsehen heißt, sondern Zentrum der Freude.) Die Partymacher bei den Fernsehsendern zählten die Menschen auf den Fanmeilen mit der gleichen Akribie und Begeisterung, wie sie Temperaturen im Hochsommer vergleichen.

Warum wird Magaths Stimme immer brüchiger?

Noch Hundertausend fehlen bis zur Million am Brandenburger Tor! Noch drei Grad bis zum Hitzerekord von 2003! Dass unter den Fans jede Menge besoffene Kinder waren, die noch vor Anpfiff vollgekotzt aus der Menge gezogen werden mussten - egal. Die WM war auch ein Fernseh- und Reklameexperiment. Welche Wirkung hat es, wenn man unentwegt feiernde Menschen zeigt?

Diedrich Diederichsen, einstmals Deutschlands berühmtester Popmusik-Kritiker und heute Professor für Theorie an der Akademie für Gestaltung in Stuttgart, schrieb in der taz: "Ein Außen der WM ist nicht mehr zu finden und alle, die sich gerne in ein solches zurückziehen würden, spüren deutlich, dass sie damit aus der Welt fallen würden. Niemand wäre da draußen. Also nehmen wir lieber gleich enthusiastisch teil."

Bei der WM war am Ende sogar egal, wer auf dem Rasen stand. Die Fans sahen die Schweiz gegen die Ukraine und sangen "Lukas Po-dol-ski", dabei spielte der gar nicht mit. Noch mal der kluge Herr Diederichsen zur Stimmung bei der WM: "Die Leute nehmen generell den Fußball nicht mehr so ernst, wie man ihn eigentlich nehmen muss, um ihn aushalten und seine Tiefe auskosten zu können."

Jetzt ist wieder Bundesliga, und also gibt es auch wieder jemanden, der die Tiefe des Fußballs auskosten kann. Dieser Jemand wird sich zahlreiche Fragen stellen: Wo kann man jetzt eigentlich was sehen, auf Premiere oder bei Arena? Wie konnten die Chefs beim FC Bayern auf die Idee kommen, ausgerechnet den verzweifelten Stürmer Santa Cruz als Regisseur aufzubieten? Warum wird die Stimme von Bayern-Trainer Felix Magath immer dünner, brüchiger? Warum landen immer alle großen Stars nur fast bei Bayern, gehen aber dann doch zu Real Madrid?

Football is coming home, in die schmutzige, rumpelige Bundesliga

Andererseits: Warum wollten die Bayern überhaupt Ruud van Nistelrooy kaufen, einen älteren Holländer, wo sie doch schon einen anderen älteren Holländer vorn drin haben? Die Suche der Bayern nach einer neuen Mannschaft hat in all ihrer Unbeholfenheit fast etwas Rührendes. Vergangenen Montag hat die Bild-Zeitung eine Sonderseite über den FC Bayern gemacht, "Chaos bei den Bayern" stand da, etwas drunter: "Kahn - Alles geht nur noch schief" und ganz unten: "Magath - Er verhandelt mit Puerto Rico, dem Heimatland seines Vaters."

Daneben stand, der Trainer Magath fühle sich bei Bayern nicht gewürdigt, und Puerto Rico sei Nummer 190 der Welt. Es klang nicht euphorisch, es klang depressiv, ein klassisches Thema für Thekengespräche richtiger Fans, die kein Kind von Poldi wollen, sondern nur einen neuen Trainer für Bayern, einen neuen Entwurf für das Glück ihres geliebten Vereins - und irgendwie auch für das ihres ungeliebten Lebens.

Die Sonderseite sah aus wie eine unabsichtliche Verabschiedung der WM-Fußball-Stimmung. Football is coming home, in die raue, schmutzige, rumpelige Bundesliga, in der eine Niederlage das ist, was sie ist: eine Pleite. Jede Pleite verursacht einen Schmerz. Wer Dritter wird in der Bundesliga, hat sich nicht direkt für die Champions League qualifiziert und ist, was ein Dritter ist: ein Verlierer im Kampf um den Meistertitel.

Bei der WM taten die Zuschauer des Spiels um den dritten Platz in Stuttgart einfach so, als hätten sie das Finale gesehen. Der Dritte, Deutschland, wurde gefeiert wie der Erste. Das war wegen der erstaunlichen Leistung der Deutschen verständlich. Ging aber andererseits völlig an der einfachen Wahrheit des Fußballs vorbei: Wer das Halbfinale verliert, ist raus.

Ranglisten, Währungen, Gewohnheiten des Fußballs und des Lebens drumherum schienen sich aufgelöst zu haben während der WM. Es war ein fremder Fußball, der da gezeigt wurde, ein entkernter Fußball, teilweise beraubt um Wettbewerbscharakter und Rivalität.

Nun bindet sich in der Liga das Gewohnte wieder zusammen. Nach dem Testspiel Borussia Dortmund gegen Tottenham Hotspur vergangenen Samstag haben sich 80 Fans und Kneipengäste vor einem Lokal in Dortmund eine Massenschlägerei geliefert. Ein Engländer musste mit blutendem Kopf ins Krankenhaus.

Die Welt war zu Gast bei Freunden, nun ist die Welt wieder zu Hause. Und da, wo sie zu Gast gewesen ist, schieben sich Probleme ins Blickfeld, zwischendurch ausgeblendete Wahrheiten, die auch den Fußball berühren.

"Entspannter Patriotismus" - ein Kandidat fürs Phrasenschwein

Halil und Hamit Altintop von FC Schalke 04, in Deutschland geboren, für die Türkei spielend, haben gerade der Wochenzeitung Die Zeit ein Interview gegeben - ein Beleg dafür, dass Interviews mit Fußballern nicht sinnlos sein müssen. Es ging darin auch um Rassismus auf dem Platz. "Das passiert ständig. ,He, du Scheißtürke' ist noch das Harmloseste", sagte Halil . "Am Ende, wenn es drauf ankommt, sind wir doch Türken", sagte Hamit.

Die Weltmeisterschaft - so besonders die Stimmung sicherlich war - hatte auch etwas Totalitäres. Alle fanden alles gut, alle hatten alles gut zu finden. Die Bundesliga ist anders, der Fußball in der Liga ist anders, weil nicht ein Land hinter einer Mannschaft oder einem Turnier stehen muss, sondern weil es 18 Teams gibt und so viel Platz für verschiedene Meinungen.

Weil der Patriotismus nicht so unheimlich locker und entspannt daherkommt - "entspannter Patriotismus" ist seit der WM auch ein Kandidat fürs Phrasenschwein. Der in der Liga gepflegte Regionalpatriotismus ist dagegen eine ehrliche, beinharte Angelegenheit. Bayernfan oder Werderfan ist man, auch ohne sich Farben ins Gesicht zu malen.

Es gibt in der Bundesliga den Typus "stiller Fan", er ist für das Fernsehen vollkommen uninteressant, aber er ist trotzdem existent. Und er ist standhaft: Fan seines Klubs bleibt man in der Regel bis zum Tod. Während die Partyfans sich inzwischen auf den Papstbesuch vorbereiten, auf die nächste Gelegenheit, mit anderen in einer Gemeinschaft sein zu können, liefern sich zum Beispiel die Werderfans im Internet eine heftige Diskussion darüber, ob es richtig war, den eifrigen, aber limitierten Verteidiger Fahrenhorst fortgehen zu lassen, um Platz zu schaffen für den Nationalmannschaftsverteidiger Mertesacker.

Die Furcht der Bremer

Fahrenhorst wird von manchem zärtlich "Gefahrenhorst" genannt. Es ist eine interessante Debatte, sie dreht sich um zwei Spieler genauso wie um den Wert des Menschen an sich. Sie streift die zentrale Furcht der Bremer, ihr geliebter Verein könne ein kalt kalkulierendes Unternehmen werden, sie dreht sich letztlich um die Frage: Wie hoch darf der Preis sein, den man für Erfolg zahlt?

Große Themen sind das: Hoffnung auf Veränderung. Angst vor Veränderung.

Die Fanwelten, die man in den Szenen der Klubs kennenlernt, sind Lichtjahre weg von denen entfernt, die das Fernsehen bei der WM präsentiert hat.

Aber jetzt fängt ja die Bundesliga wieder an, endlich. Rainer Holzschuh, Chef des Fachblattes kicker und als Formulierungskünstler in seiner ganz eigenen Liga, hat zur Begrüßung einen verwinkelten Satz gebastelt: "Die phantastische WM lässt im Nachklang nochmals grüßen." Die ARD zeigt einen Trailer, in dem Knetmännchen mit Steinbrocken spielen.

Die Männchen tragen Fetzen am Leib und sind nachlässig frisiert, und während sie sich mit dem Stein, der ein Ball ist, beschäftigen, stammeln sie "Uaaahh" und "Grmpfrmpf": Es sind Neandertaler. In der Bild-Zeitung aber schreibt der Kolumnist Blieswood, der eigentlich Norbert Körzdörfer heißt: "Ja zum Gefühl Fußball. Schwarz-rot-geil: Wir machen weiter! Olé, olé, olé." Ein Neandertaler hätte das Wesen der Fußball-Bundesliga kaum heftiger missverstehen können.

© SZ vom 12.08.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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