Stabhochspringen:Alles nur noch eine Frage der Höhe

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Je besser Stabhochspringerin Jelena Isinbajewa wird, desto distanzierter werden ihre Gegnerinnen.

Thomas Hahn

Als Jelena zu ihm kam, um das Fliegen zu lernen, führte Jewgeni Trofimow sie zunächst dorthin, wo ihre Reise enden sollte: in die Luft. Die russische Lehre sagt, dass man die Bewegung des Stabhochsprungs am besten versteht, wenn man ihre letzte Phase als Erstes betrachtet, und so hat Jelena Isinbajewa, damals 15 und aus der Turnschule kommend, zunächst nichts anderes getan als alle anderen Anfänger auch. Sie lernte, am Stab durch die Luft zu schwingen. Danach lernte sie, den Stab zu tragen, über die Anlaufbahn zur Matte, ihn einzustechen in den Kasten, seine Spannung zu nutzen, die sich wie ein Katapult auswirken sollte. Erst später entwickelte der alte Trofimow die Feinheiten im Training, die Jelena Isinbajewa, 23, zur besten Stabhochspringerin der Welt machten.

Jelena Isinbajewa ist eine von diesen WM-Favoritinnen, bei denen man sich eine Niederlage gar nicht mehr vorstellen kann. Vor dem Stabhochsprung-Finale am heutigen Freitag ist schon gar nicht mehr die Frage, ob sie gewinnt, sondern nur noch, mit welcher Höhe. Ihre Begabung ist so außergewöhnlich, dass sie fast langweilig wird. Ihre Weltrekord-Kampagne, die Isinbajewa lange in Zentimeterschritten vollzog, Prämie um Prämie kassierend, ließ erst wieder so richtig aufmerken, als sie in London die magische Marke von 5,00 Metern übertraf. Ihre Dominanz ist erdrückend, und fast wirkt es seltsam, dass Isinbajewa zwar Olympiasiegerin ist, Hallenweltmeisterin und Weltrekordlerin, aber nicht das Gold einer Freiluft-WM besitzt.

Die WM vor zwei Jahren ist ihre letzte große Enttäuschung gewesen. Sie reiste als Weltrekordlerin an und vergoss Tränen, weil sie den Sieg ihrer Landsfrau Swetlana Feofanowa überlassen musste und Silber an die Deutsche Annika Becker verlor. Und doch ist gerade dieser dritte Platz heute ein Symbol für ihren ungebändigten Ehrgeiz. Denn der Bronze-Medaille von Paris hat sie einen besonderen Stellenwert eingeräumt: "Sie ist eine Erinnerung, dass ich kein Recht dazu habe, mich auszuruhen."

Einzigartige Zielstrebigkeit

Das sagt schon viel über Jelena Isinbajewa, den Sportprofi. Nach ihren Siegen wirkt sie oft ein bisschen aufgedreht, sie produziert sich gern, und wenn sie von ihrer Vorliebe für italienische Markenmode spricht oder über ihr teures deutsches Auto, erweckt sie manchmal den Eindruck, als könnten die Folgen des Reichtums ihrem Arbeitsethos schaden. Aber darauf hofft ihre Konkurrenz vergeblich. Vielleicht liegt es daran, dass es gar nicht so leicht ist, in den grauen Straßen von Wolgograd die Armut zu vergessen, in ihrer Zielstrebigkeit jedenfalls ist Jelena Isinbajewa radikal. Sie ist eine aufgeschlossene Frau, im Frühjahr nahm sie sich zwei Tage Zeit, um einer Journalistengruppe Wolgograd zu zeigen, beantwortete alle Fragen, ließ sich fotografieren. Doch bald zeigte sie an, dass das Training beginnen musste. Sie kam noch zur Einladung eines Sponsors, aß sehr wenig und verabschiedete sich früh.

Ihre Einstellung ist geprägt von einer Mischung aus Hingabe und professionellem Gleichmut. Sie erinnert sich noch gut, wie die Amerikanerin Stacy Dragila, eine der frühen Weltrekordlerinnen, sie am Anfang mit fast mütterlicher Zuwendung begrüßte und immer distanzierter wurde, je besser Isinbajewa wurde. "Das ist normal", findet sie. Und über die Rivalin Feofanowa sagt sie: "Ich weiß, dass sie mich hasst." Es stört sie nicht. Im Gegenteil. "Es ist besser für mich, wenn sie mich hasst. Ich brauche das." Der Argwohn motiviert sie, und fürchten muss sie ohnehin keine von beiden mehr. Dragila scheiterte in Helsinki in der Qualifikation, Feofanowa ist verletzt.

Gesunde Einstellung zur Sportchemie

Jelena Isinbajewa ist eine Patriotin, die kein sehr scharfes Bild von der Politik hat. Stolz erzählt sie von den nach olympischen Empfängen, vom Small-Talk mit Präsident Putin, ansonsten zieht sie sich auf ihre Position als Sportlerin zurück. Obwohl sie sich vorstellen könnte, eines Tages beim Internationalen Olympischen Komitee einzusteigen, "weil es interessant ist". Auch weil sie die olympische Jet-Set-Gesellschaft reizt, die Stabhochsprung-Weltrekordler Sergej Bubka, ihr großes Vorbild, in vollen Zügen genießt? Immerhin scheint sie eine gesunde Einstellung zur Sportchemie zu haben. "Doping", sagt sie, "bringt die Sportler um."

Die nationale Symbolik gefällt ihr, das hat sie nicht verbergen wollen, als sie durch Wolgograd führte. Gerade hatte sie noch auf die zerbombte Mühle gedeutet, die als Mahnmal für die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs neben dem Museum zur Schlacht um Stalingrad steht. Und sie hatte gesagt, dass sie aus der Erinnerung an den russischen Widerstand Kraft schöpfe, als eine Kompanie von Soldaten vorbeikam, die einen Ausflug ins Museum unternommen hatte. Jelena Isinbajewa ließ sich fotografieren mit den Männern, ehe der Kommandeur die Erlaubnis zum Autogrammeholen gab. Es dauerte nicht lange bis zum nächsten Befehl. Die Soldaten schwärmten zurück in Reih und Glied und marschierten im Gleichschritt davon. Jelena Isinbajewa lächelte. Sie schien sich den Soldaten nahe zu fühlen. Sie sah sich bestätigt in ihrem Wirken als Russin für Russland. Und wieder hatte sie einen guten Grund gefunden, Weltmeisterin zu werden.

© SZ vom 12.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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