Sportbetrieb:Stille in der Traumfabrik

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Kein Olympia, keine Fußball-EM, keine Zuschauer in den Stadien: Das Millionenbusiness ruht - und viele Athleten müssen neue Pläne schmieden.

Von Thomas Hahn

Ronald Rauhe hatte mal einen Plan für das Jahr 2020. Einen sehr konkreten Plan. Er wusste genau, wann er welche Trainingseinheit, welche Reise und welchen Wettkampf absolvieren würde vor seinem letzten großen Ziel als Kanu-Sportler. Alle Bemühungen sollten auf den 8. August zulaufen. An diesem Tag wollte der Berliner Rauhe im Kajak-Vierer des Deutschen Kanu-Verbands bei den Olympischen Spielen in Tokio das Finale gewinnen. Die Goldmedaille mit 38, 16 Jahre, nachdem er schon einmal Olympiasieger geworden war, damals als junger Kerl im Zweier-Kajak mit Tim Wieskötter. So sollte es sein. Anschließend Feier, Karriereende, Familienzeit. "Wir wollten mit unseren beiden Söhnen für zwei, drei Monate eine Reise machen", sagt Rauhe. Australien, Neuseeland. Dann kam das Coronavirus. Alles wurde anders. Und mittlerweile hat das letzte Jahr seiner Athleten-Karriere noch einmal von vorne angefangen.

Es gibt Kräfte, die größer sind als Wettkampfkalender und Spielpläne. Das hat der Leistungssport lernen müssen im Jahr der Pandemie. Manche seiner Vermarkter wollten das nicht gleich glauben. Ihre Industrie wirkte doch immer so unverwüstlich. Kein Dopingskandal, keine Korruptionsaffäre, kein noch so anfechtbarer Ausverkauf sportlicher Werte hat ihr je wirklich etwas anhaben können. Seit Jahrzehnten produzieren Ligen und Verbände in einer endlosen Abfolge von Ereignissen ihre Helden, Meister, Bilder, Geschichten für zahlende Medien, Sponsoren und Zuschauer. Ein Milliardengeschäft. Das Coronavirus sollte daran nichts ändern. Als die Infektionszahlen im März steil anstiegen, immer mehr Menschen an der neuen Krankheit Covid-19 starben und sich abzeichnete, dass Rückzug geboten war, machten deshalb nicht sofort alle richtig mit im Sport, als es darum ging, das Land herunterzufahren.

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(Foto: Paul Faith/AFP)

Training im Pool: Der irische Paralympics-Teilnehmer Leo Hynes zog während der Corona-Pandemie seine Bahnen statt im Stadion im Vorgarten seines Hauses. Angebunden an ein Bungee-Seil verbesserte der blinde Sportler so seine Ausdauer im Brustschwimmen. Wie die Olympischen Spiele sollen auch die Paralympics für Athleten mit Behinderung im Jahr 2021 in Tokio nachgeholt werden.

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(Foto: Andrew Caballero-Reynolds/AFP)

Fitnessstudio zu? Kein Problem, dann trainieren wir eben im Wohnzimmer. Das dachte sich während des Lockdowns auch Fitnesstrainerin Paulina Mansz im US-Bundesstaat Virginia. Sie zeichnete die Sportkurse für ihre Kunden als Video auf und ihre Söhne machten fleißig mit. Keine Ausrede für Faulpelze!

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(Foto: Alberto Pizzoli/AFP)

Auf den Spuren der Gladiatoren: Ob ein paar Dehnübungen genügt hätten, um im Kampf um Leben und Tod im Römischen Kolosseum zu bestehen? In der Pandemie gibt die sonst von Touristen überlaufene Ruine des Amphitheaters wenigstens eine tolle Kulisse für Hobbysportler ab.

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(Foto: Marco Bertorello/AFP)

Kontaktsportarten stehen in der Pandemie ja auf der roten Liste - zu groß ist zum Beispiel beim Hallenbasketball die Infektionsgefahr. Aber wer könnte schon was gegen eine Runde Dachtennis haben? Zwei italienische Mädchen aus Ligurien spielten sich während des strengen Lockdowns zwischen den Häusern die Bälle hin und her und landeten mit einem Video davon einen viralen Hit. Am Ende kam sogar Tennislegende Roger Federer auf ein Spiel vorbei.

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(Foto: Johan Ordonez/AFP)

Wer dachte, es sei eine rein italienische Art, Dächer zum Spielfeld zu machen, irrt: Auch Nationalspielerin Gloria Aguilar aus Guatemala dribbelte gekonnt über die Hausdächer in Guatemala-Stadt. Von Bananenflanken auf die umliegenden Häuser ist jedoch nichts bekannt.

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(Foto: Martin Bernetti/AFP)

Man kann ruhig auch mal ein Auge zudrücken, wenn die Abstandsregeln, wie zum Beispiel bei diesen zwei Damen aus Chile, nicht ganz exakt eingehalten werden. Manchmal braucht es eben menschliche Nähe - und sei es nur beim Yoga mit einer Freundin. Soll ja auch gesund sein.

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(Foto: Sumy Sadurni/AFP)

Nachdem Ugandas Präsident Yoweri Museveni im März einen zweiwöchigen Lockdown angekündigt und sogar Sport im Freien verboten hatte, trainierte zum Beispiel dieser Boxchampion aus Kampala kurzerhand in seinem Zuhause im Naguru-Slum, das schon viele Boxtalente hervorgebracht hat.

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(Foto: Mohammed Abed/AFP)

Der palästinensische Bodybuilder Ahmed Sawi lässt sich von fehlenden Fitnessgeräten den Muskelaufbau nicht verderben. Stattdessen übt er sich an einer unorthodoxen Variante der Beinpresse - als Gewicht dient sein Sohn, der parallel seine Daumenmuskeln am Smartphone stählt.

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(Foto: Fadel Senna/AFP)

Dachsport, die Dritte: Zwischen Wäscheleine und Satellitenschüssel führt der marokkanische Muay-Thai-Profi Zakaria Bouamama seine Lufttritte unter freiem Himmel aus. Mit viel Platz, um nicht aus Versehen jemanden zu verletzen.

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(Foto: Frederic J. Brown/AFP)

Geht doch! Trotz der Corona-Plage stemmen diese starken Frauen und Männer aus Kalifornien ihre Gewichte im Fitnessstudio - hinter Plastikfolien. Das erinnert vielleicht an Terrarien im Zoo, aber am Ende zählt doch nur: dass der Bizeps wächst.

Christian Seifert, Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga, erklärte noch am 8. März, es stehe "außer Frage, dass die Saison wie vorgesehen bis Mitte Mai zu Ende gespielt werden muss". Und Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), wollte lange nicht hören, dass die Sommerspiele in Tokio mit Teilnehmern aus der ganzen Welt wegen der Pandemie nicht wie geplant würden stattfinden können. "Jegliche Spekulation zum jetzigen Zeitpunkt wäre kontraproduktiv", sagte er beharrlich. Aber diesmal ging kein Weg am Undenkbaren vorbei. Die Bundesliga unterbrach den Spielbetrieb, die Fußball-EM wurde um ein Jahr verschoben, ebenso die Olympischen und Paralympischen Spiele. Auf der ganzen Welt ruhten die Bälle. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg herrschte Stillstand in den Traumfabriken des Sports.

Olympiastarter Ronald Rauhe hat seine Karriere um ein Jahr verlängert. Ob die Spiele 2021 wirklich stattfinden?

Athletinnen und Athleten erkannten die Zeichen der Zeit schneller als die Leute aus der Wirtschaft. Sie plädierten schon für die Olympia- Verlegung, als das IOC noch lavierte. Auch für Ronald Rauhe und seine Kollegen war früh klar, dass nichts bleiben konnte wie geplant. Binnen Minuten mussten sie ihr Frühjahrstrainingslager in Sevilla abbrechen, weil die spanischen Behörden wegen der Corona-Krise die Grenzen dichtmachten. Die verschärften Hygieneregeln beeinträchtigten den Athletenalltag. Die Sportler mussten für sich alleine neue Trainingsstätten suchen. Ronald Rauhe trimmte sich im provisorischen Kraftraum daheim und paddelte auf dem Falkenhagener See in der Nähe seines Hauses auf und ab, um seinen hochtrainierten Körper zu beschäftigen. Er war froh, als das IOC und das Tokioter Organisationskomitee am 24. März endlich meldeten: keine Spiele 2020. "Es war ein komisches Gefühl", sagt er, "man war tief enttäuscht, aber auch sehr erleichtert."

Vielen Menschen fehlte nichts ohne Sportbetrieb. Andere wünschten sich ihren Fußball zurück. Dass auch die Wettbewerbe des Breitensports wegfielen, brachte Kinder, Jugendliche und erwachsene Amateure um den Ausgleich, den sie gerade in der bedrückenden Hochphase der Pandemie hätten gebrauchen können. Als die Bundesliga im Mai wieder ihren Spielbetrieb ohne Zuschauer aufnahm, freuten sich manche darüber, dass zumindest ein bisschen Normalität ins Fernsehprogramm zurückkehrte. Andere kritisierten die Ungeduld des Unterhaltungsgewerbes. Der stolze Kommerzsport spürte selbst in den Tagen, in denen er sich wieder mühsam aufrichtete, dass er nicht heilig ist.

Pfiffe oder Jubelschreie sind von diesem Fan nicht zu erwarten, dessen Konterfei aus Pappe im Stadion von Borussia Mönchengladbach sitzt. (Foto: Ina Fassbender/AFP)

Die Hygienevorschriften waren streng. Man gewöhnte sich an Geisterspiele. Im japanischen Profibaseball tanzten Roboter auf der Tribüne. Und in Südkorea führte der Versuch des FC Seoul, die Stimmung im leeren Fußballstadion zu heben, zu einer Geldstrafe von 100 Millionen Won (75 000 Euro). Der Klub hatte Sexpuppen in Trikots auf die Ränge gesetzt. Aus Versehen, wie er entschuldigend mitteilte. Man habe eigentlich Schaufensterpuppen bestellen wollen.

Gleichzeitig musste der Olympiasieger Rauhe in Falkensee überlegen, wie es weitergeht. Im Sommer hätte eigentlich sein neues Leben beginnen sollen. Sponsorenverträge und die Förderung als Sportsoldat liefen aus. Gattin Fanny, selbst Ex-Kanutin und Olympiasiegerin, hatte sich auf ein Ende seines reiseintensiven Sportleralltags eingestellt. Außerdem: Würde er seinem wehen Rücken und seinen verschlissenen Schultergelenken nach 20 Jahren Leistungssport noch einmal eine Saison zumuten können? "Ich musste mir klarwerden: Schaffe ich das überhaupt noch?", sagt Ronald Rauhe. Über Wochen grübelte er und sondierte sein Umfeld. "Das war ein längerer Prozess."

Mit 38 Jahren noch immer nicht einzuholen: Ronald Rauhe stieg nach Rio 2016 in das Mannschaftsboot um. (Foto: imago sportfotodienst)

Und Rauhe beschloss: Er paddelt weiter. Ehefrau, Bundeswehr, Sponsoren und Verband unterstützen ihn. Mit dem Kajak-Vierer war Ronald Rauhe von 2017 an dreimal in Serie Weltmeister. Das Boot war der Olympia-Favorit. Auch 2021 geht es in Tokio nicht nur ums Dabeisein, sondern um einen goldenen Abschluss. Dafür will Ronald Rauhe, mittlerweile 39 Jahre alt, seinen ächzenden Körper noch mal flottkriegen. Ob es sich wirklich lohnt?

Im Herbst wollte der Sport wieder lebendig wirken. Es durften ein paar Zuschauer in die Fußballstadien, ehe die zweite Welle der Pandemie heranrollte. In Paris wurden die French Open nachgeholt, das Tennis-Grand-Slam-Turnier, welches normalerweise im Frühsommer stattfindet. Bei der Siegerehrung trug nicht nur Gewinner Rafael Nadal eine Maske, sondern auch der unterlegene Weltranglistenerste Novak Djoković , der sich früher im Jahr bei einer selbstorganisierten Wohltätigkeitstour ohne Abstandsregeln mit dem Coronavirus infiziert hatte. Und in Tokio demonstrierten die Olympiaplaner ihre feste Überzeugung, dass die Spiele nächstes Jahr stattfinden werden.

Aber die Pandemie ist nicht vorbei. Optimismus kann täuschen, und auch Ronald Rauhe muss sich davor hüten, zu viel über die Fragen nachzudenken, die noch nicht geklärt sind. "Zweifeln geht nicht", sagt er. Er muss an die Spiele glauben. Er hat einen Plan für 2021. Einen sehr konkreten Plan.

Thomas Hahn ist Japan-Korrespondent der SZ.

© SZ vom 28.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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