Ski Alpin (I):Aufbruch im Mittelgebirge

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Die größten deutschen Alpinhoffnungen scheitern knapp an ihren Zielen.

Von Johannes Knuth

Als es dann so weit war, setzte die Skirennfahrerin Mikaela Shiffrin einen spitzen Schrei ab. Sie behält ihre Emotionen für gewöhnlich für sich; "ich bin ziemlich langweilig", hatte die 22-Jährige vor den Winterspielen gesagt und ergänzt: "Ihr werdet schon sehen." Aber am Donnerstag war alles anders. Shiffrin sank in den Schnee, als sie den Riesenslalom gewonnen hatte. Dort saß sie eine Weile und weinte. Sie sei an dieser Disziplin oft verzweifelt, anders als in ihrer Paradeübung Slalom, erklärte Shiffrin später, als die Tränen getrocknet waren. Am Donnerstag sei sie einfach ohne Rücksicht auf Verluste gefahren. "Es ging nicht darum, einen Vorsprung zu wahren", sagte sie: "So zu gewinnen, ist ein sehr spezielles Gefühl."

Es gab Viele, die auch Viktoria Rebensburg bei den Festivitäten im Zielraum von Yongpyong erwartet hatten. Aber als Shiffrin zur Olympiasiegerin ausgerufen wurde, flankiert von Ragnhild Mowinckel, der Zweiten, und Federica Brignone, der Dritten, stand Rebensburg rund 20 Meter Luftlinie von der Fröhlichkeit entfernt. Zwölf Hundertstelsekunden trennten sie von Brignone, Platz vier. So knapp zu scheitern ist schmerzhaft, zumal Rebensburg der Riesenslalom, ihr liebstes Kind, in diesem Winter so viel Freude bereitet hatte. "Das ist natürlich bitter", sagte sie, als der erste Frust verraucht war: "Nach St. Moritz weiß ich schon, wie sich das anfühlt." 2017 war sie zum Auftakt der WM Vierte im Super-G geworden. Jetzt fand sie: "Das hätte ich nicht unbedingt noch mal gebraucht."

Wer in Kitzbühel gewinnt, zählt immer zu den Favoriten: In Pyeongchang aber verspürte Thomas Dreßen ein merkwürdiges Gefühl, er wusste: Das ist sicher, aber nicht schnell. (Foto: Tom Pennington/Getty Images)

Der Deutsche Skiverband (DSV) hatte sich viel von diesem Donnerstag versprochen, an dem die Abfahrer ihr vom Wind verwehtes Rennen nachholten und die Frauen ihren Riesenslalom. DSV-Alpindirektor Wolfgang Maier wünschte sich "eine Medaille": Rebensburg war ja mit der Empfehlung von drei Weltcupsiegen angereist, die Abfahrer mit drei Podestbesuchen, darunter Thomas Dreßens Sieg in Kitzbühel. Dass am Ende niemand bei den ersten Zeremonien vertreten war, löste eher lauwarme Gefühle aus. Dreßens fünfter Platz war freilich beachtlich angesichts der Konkurrenz Rebensburgs vierter Rang rüttelte schon schwerer am Gemüt. Wenn alles passe, sei sie vorne dabei, hatte Cheftrainer Jürgen Graller zuvor gesagt, und in dieser Saison hatte vieles gepasst. Rebensburg hatte allerdings davor gewarnt, alles an der Vergangenheit zu messen, die Konkurrenz sei stark und hungrig. Sie mochte nicht, dass dieses Etikett an ihr baumelte, Gold-Favoritin.

Das Schwere liegt ja oft im Unscheinbaren. In Yongpyong waren es die Wellen im unteren Teil der Strecke. Rebensburg dachte im ersten Lauf, dass sie alle kniffligen Passagen bewältigt hatte, "ich dachte, ich kann den Ski jetzt gehen lassen". Konnte sie aber nicht. Als sie merkte, dass sie auf eine letzte, tückische Welle zusteuerte, war es zu spät. Die 28-Jährige hielt sich mit einem scharfen Lenkmanöver auf Kurs, "da habe ich fast fünf Zehntel liegen lassen", sagte sie. Platz acht nach dem ersten Lauf. Wobei Rebensburg längst eine Kompetenz darin entwickelt hat, derartige Dinge schneller zu verdrängen als andere.

Rebensburg flüchtete sich ins Lakonische. „Das ist das Leben, und meines wird weitergehen“, sagte sie. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Die Winterspiele 2010 sind das bekannteste Fallbeispiel. Der Riesenslalom zog sich damals über zwei Tage, nach dem ersten war sie Sechste, dann zog Nebel in den Kurs, Rennabbruch. Und Rebensburg? "Ich war die Jagende. Von daher war ich in einer guten Ausgangsposition", sagte sie damals. Einen Tag später war sie Olympiasiegerin. Vier Jahre später in Sotschi: zunächst auf Platz sechs, dann gewann sie noch Bronze. Die WM 2015: erst Platz elf, Probleme mit der Abstimmung der Ski, schließlich Silber. Und am Donnerstag: riskierte sie im zweiten Lauf noch mal einiges, doch sie erarbeitete sich nur eine halbe Sekunde - zu wenig, um die restlichen Starter hinter sich zu lassen. Die Berge rund um Pyeongchang erinnern eher ans albanische Mittelgebirge statt an hochalpines Terrain, "es ist nicht so leicht, bei diesem Hang viel Zeit rauszufahren", sagte Rebensburg. Dann flüchtete sie sich ins Lakonische: "Das ist das Leben, und meines wird weitergehen."

Rebensburg wird nun zur Jägerin, es werden wohl ihre letzten olympischen Rennen sein

Der Plan, den sie sich im DSV für die restlichen Tage in Pyeongchang geschmiedet hatten, ist freilich zerbröselt. Sie hatten gehofft, dass ein Erfolg im Riesenslalom eine kleine Welle entfachen würde, die Rebensburg durch den Super-G (am Samstag) und die Abfahrt trägt. Und nun? Der Super-G werde "a bisserl a Wundertüte", sagte Rebensburg. Sie hatte die schnellere Übung zuletzt kaum trainiert; Rebensburg hatte sich seit dem vergangenen September überhaupt verstärkt dem Riesenslalom gewidmet. Sie wird in den kommenden Tagen eher zu den Jägerinnen gehören; es werden wohl ihre letzten olympischen Rennen sein, in Peking 2022 wolle sie nicht mehr fahren, hatte sie vor Olympia erklärt. Aber Jägerin zu sein, weiß Rebensburg, ist nicht ihre schlechteste Perspektive.

In Jeongseon, bei der Abfahrt, war Thomas Dreßen ebenfalls als Jäger gestartet. Wobei: Wer in Kitzbühel gewinnt, zählt auch zu den Gejagten. Dreßen verspürte diesmal nur ein merkwürdiges Gefühl, er geriet kaum in Bedrängnis, er wusste: Das ist schnell, aber nicht schnell genug. Platz fünf also, 0,78 Sekunden hinter Sieger Svindal; Andreas Sander wurde Zehnter, Josef Ferstl 25. "Im ersten Moment war ich enttäuscht, dass es für keine Medaille gereicht hat", sagte Dreßen. Dann beschloss er: "Am Ende des Tages ist Fünfter nicht so schlecht." Das ist noch immer Weltspitze.

Am Ende überwog im deutschen Lager der Stolz, dass man sich über fünfte und zehnte Plätze mittlerweile ärgert. "Das hätten selbst wir Athleten nicht für möglich gehalten", sagte Sander. Der 28-Jährige hielt schon vor dem Super-G (in der Nacht zum Freitag) eine Laudatio auf die vergangenen vier Jahre. 2014 in Sotschi war kein deutscher Abfahrer dabei gewesen. "Wir müssen uns das mal wieder vor Augen führen, dass wir in den letzten Jahren einiges ziemlich gut gemacht haben", sagte Sander. Darauf wolle man aufbauen. Diese Abfahrt in Jeongseon war keine Niederlage, sie fühlte sich eher wie ein Aufbruch an.

© SZ vom 16.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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