Serie: Die Loyalen:Wie ein Skispringer ohne Ski

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So fing alles an: Michael Spatz beim Europapokal für den TV Großwallstadt in seiner ersten Saison. (Foto: imago)

Michael Spatz hat elf Jahre lang in der Handball-Bundesliga gespielt, die meiste Zeit für den TV Großwallstadt. Auch nach dem Abstieg blieb er - weil er hier gefunden hat, was er suchte.

Von Sebastian Leisgang

Wechsel sind fester Bestandteil des Sports. Sie finden inzwischen in vielen Sparten in immer kürzeren Abständen statt und sind mit immer höheren Geldsummen verbunden. Aber es gibt eben auch diejenigen, die in der Beständigkeit Abwechslung und Spannung finden. In dieser Serie erzählt die SZ von ungewöhnlich lange andauernden Beziehungen zwischen Mensch und Verein.

Vor ein paar Wochen war mal wieder einer dieser seltenen Momente. Michael Spatz besuchte Silvio Heinevetter und Michael Müller in Berlin, zwei Bekannte aus früheren Tagen, die zwar wie er in die Jahre gekommen sind, aber noch immer in den großen Hallen des Landes spielen. Die Füchse trafen in der Handball-Bundesliga auf die Rhein-Neckar Löwen, ein Festtag in der Max-Schmeling-Halle. Spatz erzählt von einem imposanten Einlauf der Mannschaften, untermalt von hochschießenden Flammen und ohrenbetäubendem Lärm, neuntausend Menschen waren gekommen.

Grundsätzlich sei er mit sich im Reinen, sagt Spatz. Er mache sich keine Gedanken über ein Was-wäre-wenn, er lebe nicht im Konjunktiv, er empfinde auch keine Wehmut, wenn er an die Tage denkt, an denen er selbst vor neuntausend Leuten gespielt hat. "Aber in Berlin", sagt der 37-Jährige, "da war so ein Moment, da hätte ich gerne noch mal auf der Platte gestanden".

Das ist seine Geschichte, das ist es, worum es bei ihm als Sportler im Kern geht: die Frage, warum Spatz, der frühere Nationalspieler, in den großen Hallen des Landes schon länger nur noch zuschaut - und eben nicht mehr selbst auf diesen Bühnen spielt,obwohl er das noch gekonnt hätte.

Es ist ein regnerischer Dienstagnachmittag in Aschaffenburg. Spatz sitzt mit dunkelblauem Pullover und Mehrtagebart in einem Restaurant in der Nähe des Bahnhofs und spricht über seine Karriere und über den TV Großwallstadt. Es soll auch ein Gespräch über die dritte Liga werden und über die Frage: Warum tut er sich das alles überhaupt noch an?

Spatz hat zwölf Mal für die deutsche Nationalmannschaft gespielt, elf Jahre in der Handball-Bundesliga, erst für den VfL Gummersbach, ab 2007 für den TV Großwallstadt, später eine Saison für den TVB Stuttgart - und seit 2016 wieder für Großwallstadt. Inzwischen ist Spatz zwar auf seinen letzten Metern als Handballer, kommt aber nicht so daher, als lebe er schwelgend in den Erinnerungen an die Vergangenheit oder denke permanent über den Zeitpunkt seines Karriereendes nach. Er hat nichts von einem Geschichtenerzähler an sich, nichts Gestriges. Spatz ist ein eloquenter Mann, deshalb lässt sich gut nachvollziehen, wenn er all das erklärt: was in der Bundesliga anders ist als in der dritten Liga, was er auch in dieser Spielklasse am TVG schätzt und wie Großwallstadt für ihn, den gebürtigen Mannheimer, inzwischen zur Heimat geworden ist. "In Gummersbach", sagt Spatz, "waren die anderen Spieler - zugespitzt gesagt - Arbeitskollegen. In Großwallstadt ist es ein anderes Zusammengehörigkeitsgefühl. Da sind wir Kumpels."

Und das ist es auch, was ihn dazu bewogen hat, dem TVG treu zu bleiben, als der Klub vor einem halben Jahr abstieg. Spatz war der erfolgreichste Torschütze der zweiten Liga, er hatte bewiesen, dass noch immer eine Menge in ihm steckt. Eigentlich genug, um nicht mehr in den kleinen Hallen spielen zu müssen. Spatz aber lehnte sämtliche Anfragen von anderen Klubs ab, noch bevor er sich näher mit ihnen befasst hatte, und blieb, mal wieder, in Großwallstadt. Nach dieser Saison wird er zwölf Jahre lang beim TVG gespielt haben, mit nur einer Saison Unterbrechung.

In Großwallstadt hat Spatz das gefunden, was ihm am meisten fehlen wird, wenn er eines Tages Schluss macht mit dem Profihandball. Nicht diese Aufmerksamkeit, wie man sie nur in der Bundesliga erfährt, nicht diese Atmosphäre, wie sie etwa in Berlin, in Kiel oder in Flensburg aufkommt - es ist das Beisammensein mit den Mitspielern, die Stimmung in der Kabine und vor allem: das Gefühl, zu Hause zu sein. Manchmal, erzählt Spatz, erlauben es sich seine Mitspieler, ihn aufzuziehen, weil er längst im Rentenalter ist, zumindest für einen Handballer. Dann nennen sie ihn Opi oder drücken ihm einen Zettel in die Hand, auf dem geschrieben steht, worüber er sich mit ihnen unterhalten kann: Netflix, Fortnite, solche Dinge. Spatz lächelt dann meistens, so wie er es nun auch im Aschaffenburger Restaurant tut. Er weiß, dass einem vieles leichter fällt, wenn man sich selbst nicht so ernst nimmt.

Spatz rudert jetzt mit den Armen. Er will erklären, wie er das macht: vor einem Spiel das Nebensächliche auszublenden, die Sinne zu schärfen und auch in Nieder-Roden, in Nußloch und in Gelnhausen das Spielfeld mit derselben Konzentration zu betreten wie früher in Berlin, in Kiel und in Flensburg. Spatz sagt: "Ich versuche, mich schon in der Kabine in die Situationen hineinzuversetzen, um diese Anspannung selbst zu erzeugen." Wieder und wieder geht er den Ablauf durch: wie er auf der rechten Seite angespielt wird, wie er an den Kreis läuft, wie er springt, wie er auf den Torwart achtet, wie er wirft. "Bevor ich in die Halle gehe", sagt Spatz, "habe ich im Kopf bestimmt zwanzig oder dreißig Mal aufs Tor geworfen. Ich stelle mir diesen Ablauf vor - ähnlich wie es die Skispringer machen."

Spatz ist inzwischen im Spätherbst seiner Karriere, ihr Ende ist nahe, er weiß das. Die Trainingseinheiten am Vormittag lässt Spatz schon jetzt aus, und irgendwann steht er gar nicht mehr auf der Platte. Er wird dann nur noch auf der Tribüne sitzen und den anderen zuschauen. Wenn es so weit ist, wird Spatz wohl etwas fehlen: ein Stück Heimat.

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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