Schwingen:Zu lieb für einen Bösen

Lesezeit: 3 min

Im Schweizer Nationalsport krönt sich der Routinier Christian Stucki zum Besten. Der Koloss aus Bern, hauptberuflich Lastwagenfahrer, ist der älteste Sieger des eidgenössischen Traditionsturniers.

Von Isabel Pfaff

Im Schwingen heißt das Finale Schlussgang, und diesmal dauert der Schlussgang keine 50 Sekunden. Die beiden Männer fassen Griff, traben umschlungen ein paar Schritte übers Sägemehl, verlassen dabei den Ring. Wieder Grifffassen, und dann geht es schnell. Christian Stucki, der Berner Hüne, nimmt seinen Gegner Joel Wicki an der kurzen Überhose, wirft ihn aus dem Stand auf den Rücken. "Kurz" heißt dieser Schwung - einfach, aber gewaltig. Er macht den Stucki Christian, wie die korrekte Namensreihenfolge im Schwingen lautet, zum neuen Schwingerkönig der Schweiz.

Die Stimme des Kommentators überschlägt sich. "Der Stucki! Der Stucki ist König!" Es klingt, als sei der Stucki ein alter Bekannter. Und so falsch ist das nicht. Christian Stucki, 34 Jahre alt, knapp zwei Meter groß und rund 140 Kilo schwer, schwingt seit 27 Jahren, seit etwa einem Jahrzehnt gehört er zu den besten Schwingern des Landes, zu den "Bösen", wie die Elite dieses Nationalsports genannt wird. Doch zum König hatte es dieser Mann, der selbst unter seinen Schwingerkollegen noch als Koloss heraussticht, nie gebracht.

Schwingerkönig: Christian Stucki (im roten Hemd) wuchtet seinen Gegner Armon Orlik durch die Luft. (Foto: Moritz Hager/Reuters)

Bis zu diesem letzten August-Wochenende in Zug. Beim Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest, das alle drei Jahre stattfindet und den neuen Schwingerkönig hervorbringt, hatte Stucki zwar als möglicher Anwärter auf den Titel gegolten, aber zu den heißen Favoriten zählte der 34-Jährige nicht mehr. Die Aufmerksamkeit galt den Jungen, etwa dem durchtrainierten Samuel Gieger, 21, dem beim letzten Mal im Finale gescheiterten Armon Orlik, 24, oder eben dem 22 Jahre alten Joel Wicki: eher klein, aber berühmt für seine offensive Kampfweise.

Christian Stucki dagegen hatte den Ruf, ein bisschen zu lieb für einen Bösen zu sein. Einer, dem zwar die Herzen zufliegen für seine sympathische Art, sein gemütliches Berndeutsch und seine sportlichen Erfolge trotz der beachtlichen Leibesfülle. Dem aber der letzte Biss fehlt, um König zu werden. 2013 war es einmal fast so weit, Stucki hatte den Schlussgang erreicht und trat gegen seinen Verbandskollegen Matthias Sempach an - doch er unterlag. Und trotzdem gehört diese Niederlage wohl zu den wichtigsten Momenten seiner Karriere, denn noch im Sägemehlring drückte Stucki seinem Gegner einen Kuss auf die Stirn. In der Schwingerwelt, die den Gegensatz aus hartem Ringkampf und weichen, anständigen Kerlen liebt, hatte er sich damit unsterblich gemacht.

Der König und sein Preis: Christian Stucki und der Stier Kolin. (Foto: Moritz Haber/Reuters)

Es tat Stuckis Beliebtheit auch keinen Abbruch, als er den deutschen Discounter Lidl zu seinem Hauptsponsor machte - im Schwingen, diesem Schweizer Ursport, durchaus ein Kunststück. Denn zum einen sind Werbung und finanzkräftige Sponsoren ein relativ junges Phänomen im Schwingsport, das vielen Traditionalisten aufstößt. Schwinger, die es damit übertreiben, müssen sich rechtfertigen. Und zum anderen gelten die deutschen Billigmärkte Lidl und Aldi als ziemlich unschweizerisch, und die sogenannte "Swissness" von Unternehmen spielt eine nicht unwichtige Rolle unter den Eidgenossen.

Doch Christian Stucki gelang auch dieser Spagat. Wie alle erfolgreichen Schwinger geht er neben dem Sport noch einem normalen Beruf nach, er ist Lastwagenfahrer. In einem Werbevideo für Lidl fährt er selbst das Fleisch in die Lagerhalle des Discounters, Schweizer Fleisch natürlich, und verbindet so das Geschäftliche mit den Tugenden, die der Schwingsport von seinen Helden erwartet: trotz einer anstrengenden Sportlerkarriere weiter einem normalen Job nachgehen, möglichst bodenständig und bescheiden. Nun also der Königstitel für diesen sanften Riesen. Es ist schwer, jemanden zu finden, der ihm diesen späten Triumph nicht gönnt - zumal Stucki sich in Zug von seiner besten Seite gezeigt hat. Die Einteilungskampfrichter hatten ihm harte Gegner zugeteilt, trotzdem qualifizierte sich Stucki mit fünf Siegen und zwei unentschiedenen Kämpfen für den Schlussgang. Damit startete er mit einem leichten Punkterückstand in den Kampf gegen Joel Wicki. Dem jungen Innerschweizer hätte deshalb ein Unentschieden zum Königstitel gereicht - Stucki musste gewinnen. Nun darf sich Wicki, der zwar verloren, aber genauso viele Punkte wie sein Gegner hatte, "Erstgekrönter" nennen. Ein unbeliebter Titel, doch Wicki wirkte nach dem Kampf am Sonntagabend nicht bitter: Er gönne es dem "Chrigu" von Herzen, ließ er wissen.

Der ist jetzt der älteste Schwingerkönig, den die Schweiz je hatte. Ob er nun, da er alle wichtigen Schwingfeste gewonnen hat, nicht langsam ans Aufhören denke, wurde er nach seinem Sieg in Zug gefragt. Er antwortete langsam und lächelnd: Manchmal frage er sich schon, warum er sich das immer noch antue: "Aber die Leidenschaft ist einfach da." Mindestens bis 2022 will er weiterschwingen. Dann geht es um den nächsten Königstitel.

© SZ vom 27.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: