Schweiz:Lieber mal den Ball weghauen

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Yussuf Poulsen trifft zum Sieg, der Schweizer Ricardo Rodriguez steht daneben. (Foto: Ritzau Scanpix Denmark/Reuters)

Bei der 0:1-Niederlage in Dänemark folgt die Schweizer Nationalelf wieder einem fatalen Muster: Sie verschenkt ihre Punkte immer in den letzten Minuten. Dänemark erfreut sich derweil am Leipziger Poulsen.

Von Fabian Ruch, Kopenhagen

Es ist ihnen schon wieder passiert. Wie im März gegen Dänemark, als die Schweizer ein 3:0 verspielten nach Gegentoren in der 84., 88. und 93. Minute. Wie im Sommer beim Final-Four-Halbfinal der Nations League, als Cristiano Ronaldo für Portugal die Tore zum 2:1 und 3:1 in der 88. und 90. Minute erzielte. Und wie vor einem Monat in Irland, als das 1:1 der Gastgeber in der 85. Minute fiel.

Am Samstag in Kopenhagen war es die 84. Minute, als die Schweizer Defensive kollektiv kollabierte. Der Gladbacher Nico Elvedi ließ sich zu weit nach vorne ziehen, der Wolfsburger Kevin Mbabu vergaß, seine rechte Seite abzusichern, der Dortmunder Manuel Akanji und der ehemalige Hoffenheimer Fabian Schär verließen das Zentrum und verschoben nach rechts. Und Ricardo Rodriguez, einst Wolfsburg, heute AC Mailand, versäumte es, ein paar Meter nach hinten zu rücken, um die Lücke zu schließen. All diese Mängel erlaubten es dem Dänen Christian Eriksen, mit einem wunderbaren Steilpass Yussuf Poulsen zu bedienen, und der Leipziger Angreifer verwertete die einzige gute Möglichkeit Dänemarks kühl zum 1:0-Siegtreffer.

Am Ende blieb der Schweizer Elf trotz klarer Überlegenheit und den besseren Chancen wieder nur die Erkenntnis, aus den Fehlern nichts gelernt zu haben. "Wir müssen endlich über die gesamte Spielzeit konzentriert bleiben", sagte Stephan Lichtsteiner, der inzwischen in Augsburg spielt. Trainer Vladimir Petkovic sagte, seine Mannschaft habe diese Niederlage nicht verdient, "aber unsere Chancenauswertung war ungenügend. Und wir haben leider in der Schlussphase einmal nicht konsequent verteidigt". Und Gladbachs Torhüter Yann Sommer fand die wohl beste Formulierung, als er meinte, die Schweiz müsse "eben auch mal ein 0:0 akzeptieren". Schon nach dem Spiel in Irland hatte Sommer vom "Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Resultat" gesprochen. Das trifft das Schweizer Problem wirklich gut.

Denn die Resultate stimmen nicht mehr. In den letzten sechs Begegnungen siegte die Schweiz nur einmal (4:0 gegen Gibraltar) und sieht sich nun einer Debatte über mangelnde Konzentrationsfähigkeit ausgesetzt. Die Dänen jedenfalls sprachen vor und nach dem Spiel davon, wie anfällig die Schweiz in den letzten Minuten sei. "Das war bei uns schon Thema", sagt Poulsen. Der Schweizer Coach Petkovic räumt ein: "Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht in unseren Köpfen festsetzt."

Petkovic ist ein mutiger Trainer, er stellt seine Mannschaften offensiv auf und ein, er fordert Dominanz und Angriffsfußball. Er hat die Schweizer Auswahl nach dem oft nüchternen Resultat-Coach Ottmar Hitzfeld durchaus entwickelt. An guten Tagen kann das wie vor einem Jahr trotz frühem 0:2-Rückstand zu einem 5:2 gegen den Weltranglistenersten Belgien führen. Aber im Alltag präsentiert sich seine Mannschaft noch zu oft naiv, fehlerhaft, unbeholfen. Mitunter fehlen in der Schlussphase einer Partie Ruhe und Übersicht, und manchmal wäre es auch sinnvoller, nicht kurz vor Spielende noch einen Sieg anzustreben - wie an diesem Samstag in Kopenhagen. Es wäre bei jener fatalen Szene in der 84. Minute sicher besser gewesen, tiefer zu verteidigen, als den Ball unbedingt weit in der gegnerischen Hälfte erobern zu wollen.

"Wir müssen auch mal zum Befreiungsschlag bereit sein", hat Lichtsteiner kürzlich gesagt. Der routinierte und zuverlässige Rechtsverteidiger stand bei all den Last-Minute-Einbrüchen nicht auf dem Platz, am Samstag war er Mitte der zweiten Halbzeit durch den an guten Tagen so aufregenden Mbabu ersetzt worden. Allerdings neigt Mbabu ebenso wie Akanji dazu, zuweilen die notwendige Ernsthaftigkeit bei den Sicherheitsarbeiten zu vernachlässigen. Trainer Petkovic sagt zwar zu Recht, man dürfe keine Pauschalurteile fällen und müsse die Gegentore einzeln analysieren. Und natürlich führten erst die Sonderklasse von Ronaldo und Eriksen zu den Niederlagen in Portugal und Dänemark. Und ja, der irische Ausgleich vor einem Monat fiel aus Abseitsposition. Aber dennoch: Die Reihe an Aussetzern kurz vor Spielende ist bemerkenswert und auffällig.

Gefordert sind nicht nur die Spieler. Gerade der Trainer Petkovic wäre wohl gut beraten, seiner grundsätzlich löblichen Philosophie des couragierten Auftretens eine Prise Realismus beizufügen. Zu seiner Zeit als Coach bei den Young Boys in Bern vor einem Jahrzehnt war er ähnlicher Kritik ausgesetzt, weil er vehement und für manche Beobachter stur auf die Dreierkette in der Abwehr setzte, die damals nur eine Handvoll Serie-A-Teams praktizierte.

Petkovic war ein Trendsetter, seine Young Boys agierten damals spektakulär und stürmisch, aber sie kassierten zu viele Tore und verloren die wichtigen Begegnungen, weil ihnen manchmal die Balance fehlte. "Wir müssen einfach konzentriert bleiben und individuelle Fehler vermeiden. Die Niederlagen zuletzt hatten überhaupt nichts mit dem System zu tun", sagte Petkovic im Jahr 2009 als Young-Boys-Trainer. Wie sich die Sätze gleichen.

Mittlerweile ist die damals noch recht innovative Ausrichtung mit drei zentralen Abwehrspielern schwer in Mode, auch Petkovic schätzt immer noch die Vorzüge der hohen Variabilität und der idealen Raumabdeckung, obwohl er flexibler geworden ist. Nun aber steht der Coach erstmals als Nationaltrainer so richtig im Gegenwind. Mit drei Siegen gegen Irland, Georgien und in Gibraltar würde die Schweiz immer noch auf direktem Weg zur EM 2020 fahren - dort will das forsche Nationalteam endlich den großen Wurf landen.

Seriöses Abwehrverhalten würde dabei helfen, so wie voriges Jahr bei der WM gegen Brasilien (1:1). Vermutlich hätte Mbabu gegen die Brasilianer nicht wie in Irland zum Dribbling angesetzt, und gegen Brasilien wären die Schweizer in der 84. Minute auch kaum so leichtsinnig ins hohe Pressing gegangen wie am vorigen Samstag. Die Schweizer wissen eigentlich, was sie tun müssen - sie tun es nur allzu oft nicht.

© SZ vom 14.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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