Schweiz:Einmal berührt, sofort geführt

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Mit der ersten Ballberührung trifft der Schweizer Valentin Stocker (l.) zum Sieg gegen Ungarn. (Foto: Georgios Kefalas/dpa)

Valentin Stocker rückt in Ungarn mit seinem Siegtor wieder einmal unerwartet in den Mittelpunkt.

Von Ueli Kägi, Budapest

Er läuft sich ein. Und ein. Und ein. Aber das Spiel ist gegen ihn. Zweimal geführt, zweimal den Ausgleich kassiert. Nach dem 2:2 der Ungarn vermutet er, dass Trainer Vladimir Petkovic das Unentschieden halten will. Dafür bräuchte es den Offensivspieler nicht. Doch Petkovic denkt ganz anders.

87:31 Minuten sind gespielt, als Valentin Stocker das Spielfeld betritt. Der 27-Jährige denkt in diesem Moment: "Vielleicht hast du eine Chance, dann musst du sie nutzen." Nach 88 Minuten und 57 Sekunden erzielt er das 3:2. Zum Sieg.

Sekunden davor hat Lichtsteiner zuerst versucht, den Ball nur kurz einzuwerfen. Zweimal bricht er ab. Dann entscheidet er sich zum weiten Einwurf. Stocker nutzt den Moment, um Dzemaili noch zuzurufen, mit ihm vors Tor zu drängen. Dann verlängert Derdiyok den Ball von Lichtsteiner mit dem Kopf, leitet Dzemaili genau gleich weiter und steht Stocker plötzlich allein. Er hat sich im Rücken des Gegenspielers gelöst, wie das die Stürmer im Lehrfilm tun. Stocker erzählt: "Der Ball kommt mir genau vor die Füße. Da ist auch viel Glück dabei." Und nach dem Treffer hat er nur noch ein Gefühl: "Als ob ich fliegen kann."

"Nicht der Prototyp des Fußballers"

Eine Ballberührung, ein Tor. "Gute Quote", stellt er fest und schmunzelt schelmisch. Sein Abend in Budapest ist die Rückkehr eines Fußballers, der sich manchmal unverstanden fühlt, unfair behandelt, ungerecht kritisiert. Vor allem in der Nationalmannschaft. Aber auch in Berlin bei Hertha, seinem Verein. Zu einzelnen Beurteilungen nach Länderspielen sagt er: "Ich hatte das Gefühl, dass manche Journalisten darauf warten, dass es nicht super läuft." Er glaubt, dass es dafür "andere Gründe gibt als meine Leistungen". Wie er das meint? Er sei nicht der "Prototyp Fußballer", beginnt Stocker den nächsten Satz, mag den Gedanken dann aber doch nicht zu Ende bringen. Er will seine Situation nicht in wenigen Minuten zwischen zwei Länderspielen auslegen. Am Montag folgt für die Schweiz der Match in Andorra.

Stocker hat als Jugendlicher das Gymnasium abgebrochen, um auf dem Rasen Karriere zu machen. Über den Fußball hat er einmal gesagt: "Das Ganze ist ein Zirkus, in dem ich mitspiele." Er hat sich beim einen oder anderen sicher unbeliebt gemacht mit Mätzchen, verdeckten Schlägen, Schwalben auch. Vor allem aber ist er als Stürmer aufgefallen. Als Wirbler. Dribbler. Vorbereiter. Goalgetter.

Die Nationalelf wurde nie zu seiner zweiten Heimat

Jetzt hat Stocker 6 Tore in 34 Länderspielen erzielt. 34 Länderspiele? Das sind eigentlich viel zu wenige für einen, der im August 2008 als 19-Jähriger gegen Zypern debütierte, gleich von Beginn an spielte und keine acht Minuten benötigte, um erstmals zu treffen. Viel zu wenige für einen, der große sieben Jahre beim FCB hatte. Nur: Die Nationalmannschaft wurde nie zu einer zweiten Heimat für den Krienser wie der FC Basel, den er im Sommer 2014 verließ für den letzten Schliff in der Bundesliga.

Er würde es nie so sagen, aber wer ihm nahe ist, erzählt davon: Stocker hat sich bei Zusammenzügen mit der Schweiz immer etwas an den Rand gedrückt und nicht respektiert genug gefühlt. Weniger, also noch Frei, Streller und Huggel dabei waren, seine Basler Kumpel. Aber danach immer wieder. Und er hat sich dann im Auftaktmatch an der WM 2014 praktisch selbst aus der Mannschaft gespielt mit einer schwachen ersten Halbzeit gegen Ecuador. Danach kam für ihn Mehmedi, und Stocker spielte weit über Brasilien hinaus fast keine Rolle mehr.

Die Haare sind locker nach hinten gekämmt, als Stocker eine Stunde nach dem Ungarn-Match nicht nur von den letzten Minuten erzählt, sondern auch von den vergangenen Monaten, die schwierig waren für ihn, weil er auch in Berlin in der Vorsaison nur noch zehn Mal von Beginn an Bundesliga spielte, oft gar nicht gebraucht wurde und diese Saison ebenso auf der Ersatzbank begann. Zwischenzeitlich hat er sich auch öffentlich beklagt. Über die Nationaltrainer Hitzfeld und Petkovic beispielsweise, die mit ihm bei Absagen nur via Mail oder SMS kommuniziert hätten. Über die leeren Versprechen des Hertha-Managements. Und "fehlende Rückendeckung" überhaupt.

Schlüssige Erklärungen für den Aufschwung hat er nicht

Dann aber verletzte sich Herthas Regisseur Vladimir Darida Mitte September so schwer, dass er wochenlang ausfällt. Stocker durfte ins Team zurückkehren, zuerst als Einwechselspieler, schoss ein Tor, provozierte zwei Elfmeter, und jetzt gehört er wieder zur Startformation. Er hat die "Riesen-Chance", sich als Spielmacher der Hertha "fest zu spielen", so hat das Trainer Dardai gesagt. Auf Facebook schrieb Stocker nach seinem jüngsten Aufschwung: "Egal, wie oft du eins in die Fresse kriegst: Gib niemals auf! Und am Ende wirst du belohnt!"

Die sportliche Krise, den Kampf und Krampf für die Rückkehr, den Triumph, das müsse ein Fußballer alles erlebt haben, findet Stocker. Wieso es nun plötzlich wieder läuft? Er fühlt sich privat wohl in Berlin, wo er zusammen mit der Freundin wohnt. Doch das war ja schon vorher so. Schlüssig erklären kann er es sich nicht, muss er auch nicht können. Der Fußball ist nicht immer logisch, er belohnt nicht immer die Mutigen und Arbeitsamen. "Oftmals, wenn man ganz viel arbeitet, wird man noch weniger belohnt", so hat das Stocker erlebt, "aber irgendwann ändert es sich. Dann steht man am richtigen Ort, der Ball wird noch abgefälscht, man genießt die Zeit."

Die Zeit genießen als Fußballer, das kann und will er jetzt wieder. Seine Erfahrung ist, dass ein Hoch anhält, "dann ist man wie fremdgesteuert". Das klingt nicht nach einem angenehmen Zustand. Stocker aber wünscht ihn sich genauso.

© SZ vom 09.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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