Schumis letzte Runde:Angekommen am Ende des Kreises

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"Ich bin mit mir im Reinen": Bei der Raserei war Michael Schumacher der Disziplinierteste - nach großen Dramen endet die Karriere eines Mannes, der immer alles gewollt und fast alles erreicht hat.

René Hofmann

Man muss sich den erfolgreichsten Formel-1-Fahrer erstaunlich gelassen vorstellen. Die Szene spielt am Donnerstagmorgen, im Hotel Transamerica in São Paulo, einem gewaltigen Bau aus Backsteinen und Marmor.

Im Keller gibt es dort das Teatro Alfa, einen niedrigen Saal, in dem sich hundert mit grünem Samt bezogene Sessel um eine kleine, rot ausgeschlagene Bühne gruppieren. Auf der sitzt Michael Schumacher.

Er trägt Turnschuhe, Jeans, einen roten Pullover und eine rote Schildkappe. Trotz der Kappe muss er die Augen immer ein wenig zusammenkneifen. Die vielen Scheinwerfer blenden.

Es ist seine letzte ausführliche Pressekonferenz. Der Saal ist überfüllt. Es ist stickig. Es geht drunter und drüber. Fotografen schreien Kameramänner an, Radioreporter drängen mit ihren Mikrofonen nach vorne, der Moderator einer brasilianischen TV-Station ist ganz wild darauf, Schumacher noch ein Geschenk zu übergeben: eine hässliche Plastikschildkröte.

Einmal noch!

An diesem Sonntag wird Michael Schumacher sein letztes Formel-1-Rennen bestreiten. Deshalb sind alle schrecklich aufgeregt. Nur einer nicht: Michael Schumacher. Als das Tohuwabohu am größten ist, sitzt er für einen Moment stumm da und lässt seinen Blick über das Durcheinander schweifen. Es ist ein Blick, der nur eines sagt: Einmal noch. Dann ist es geschafft.

Michael Schumacher hat sich den Ruhm nie gewünscht, er hat den Rummel, der sich um ihn entsponnen hat, nie genossen. Im Alter von fünf Jahren, noch bevor er richtig Lesen und Schreiben konnte, hat er sein erstes Kart-Rennen bestritten.

16 Jahre lang hat er das Tempo der Formel 1 bestimmt. Was er von Montag an tun wird? "Ich weiß es nicht", sagt er: "Und ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich es wissen sollte. Ich sehe das sehr entspannt. Das Leben bietet so viele Möglichkeiten. Ich bin sicher, dass ich auf einige interessante stoße."

Ob er im kommenden Jahr denn wenigstens bei einigen Rennen vorbeischauen werde? "Ich weiß es noch nicht", sagt er. Es klingt ehrlich. Eine kleine Chance hat er noch, seinen achten Titel zu holen: Er muss das Rennen am Sonntag gewinnen und Fernando Alonso darf nicht unter die besten Acht kommen.

Als Sieger und Weltmeister abzutreten - das hat noch keiner geschafft. Für Schumacher aber wäre das Einmalige bloß noch eine Zugabe. "Ich habe sehr viel in meiner Karriere erreicht", sagt er: "Ich bin mit mir im Reinen." Es ist sein letzter Auftritt in großer Runde. Vielleicht gerät deshalb einiges ein wenig zu feierlich.

Tricks mit Sprit und Brett

Er wirkt versöhnlich. Keine Spur lässt sich finden von der Kaltschnäuzigkeit, die er sich mit dem Overall und dem Helm stets überstreifte. Auf dem Nürburgring hat er seinen Bruder Ralf beim Start einmal beinahe in die Boxenmauer gedrängt.

In Monaco setzte er im vergangenen Jahr gegen ihn noch auf der Ziellinie zu einem gewagten Überholmanöver an. Im österreichischen Spielberg zog Michael Schumacher einst ungerührt an seinem Ferrari-Kollegen Rubens Barrichello vorbei, dem von der Box aus befohlen worden war: "Lass Michael vorbei!".

Michael Schumacher wollte immer und überall gewinnen, gelegentlich auch mit unlauteren Mitteln. 1997 versuchte er im spanischen Jerez, Jacques Villeneuve von der Strecke und sich selbst so zum Titel zu rammen.

Die Aktion kommt an diesem Morgen noch einmal zur Sprache, woraufhin Schumacher einen Satz sagt, der typisch für ihn ist: "Es ist ziemlich klar, dass man manche Dinge anders machen würde, wenn man noch einmal die Gelegenheit dazu hätte." Wer ihn mag, kann daraus lesen: Da sitzt ein Geläuterter. Wer ihn nicht mag, sagt: Eine Entschuldigung klingt anders.

Michael Schumacher hat oft polarisiert. Die Liste seiner umstrittenen Auftritte ist lang. 1994 kollidierte er im Finale mit seinem WM-Rivalen Damon Hill. Beide fielen aus, Schumacher war Weltmeister.

Im Jahr darauf stürmte er beim Auftakt in Brasilien vom 16. Startplatz aus zum Erfolg. Im gleichen Rennen fand sich allerdings Sprit in seinem Tank, der so nicht zugelassen war.

"Schummel-Schumi"

Ein anderes Mal fand sich ein Brett am Unterboden, das so nicht erlaubt war, bei einer weiteren Kontrolle tauchte auf der Festplatte illegale Software auf. In Silverstone fuhr er 1994 seelenruhig an schwarzen Flaggen vorbei, die seine Disqualifikation verkündeten, woraufhin er für zwei Rennen gesperrt wurde.

Die frühen Fehltritte begründeten den Spitznamen "Schummel-Schumi", der ihn in diesem Jahr noch einmal einholte, als sein Wagen in Monaco am Ende der Qualifikation plötzlich so quer auf der engen Straße stand, dass kein anderer mehr zur Bestzeit kommen konnte.

Ein Missgeschick, behauptete Schumacher. Die Rennkommissare glaubten ihm nicht und verbannten ihn ans Ende des Feldes, von wo aus er sich voller Furor wieder unter die besten fünf kämpfte.

Formel-1-Rennen mit Michael Schumacher waren wie Tennisspiele mit Boris Becker: Er gewann mit großer Geste oder verlor in einem großen Drama. Dazwischen gab es selten etwas.

Schumiletten im Supermarkt

Auch der Boom, den beide auslösten, ist durchaus vergleichbar. Bevor Schumacher auftauchte, lief die Formel 1 ab und an im öffentlich-rechtlichen Fernsehen - mit mäßigen Quoten.

Als der Privatsender RTL die Rechte erwarb und die Chance witterte, sein Image mit dem Spektakel aufzupolieren, schalteten im ersten Jahr im Schnitt 1,76 Millionen ein.

Zwei Jahre später waren es schon doppelt so viele, und als Schumacher im Jahr 2000 zu seinem ersten Erfolg mit Ferrari brauste, waren es 9,87 Millionen. Bis zu vier Sender berichteten ab dem ersten Training. In Talkrunden wurde das Geschehene noch Tage danach besprochen.

Bei Lidl gab es die "Schumilette", bequeme Badelatschen. Michael Schumacher hat die Menschen bewegt, obwohl seine Biografie keine Brüche aufwies, obwohl er keine Frau mit schwarzer Haut heiratete, keine Besenkammer-Storys lieferte und keine Scheidungsschlacht ausfocht.

"In mancher Hinsicht bin ich typisch deutsch", hat er einmal gesagt: "Wir haben keine Bodenschätze, wir holen sie aus dem Ausland und stellen daraus etwas Vernünftiges her. Ein bisschen ist das bei mir auch so: Ich nehme etwas, ein Rennauto, und mache im Vergleich zu anderen daraus etwas Besseres." Michael Schumacher und das Land, aus dem er stammt - darüber gibt es viele Geschichten.

Als er 1996 in die Schweiz zog, löste das eine Debatte über Steuerflucht aus. Als bekannt wurde, dass er sich trotz seiner Millionengage die günstige Marmelade aus der Heimat kommen ließ, hieß es: Sieh da, wie kleinkariert!

Als er in der Kapelle auf dem Bonner Petersberg heiraten wollte, verweigerte der zuständige Pfarrer dem Prominenten zunächst den Zutritt - bis sich Bundeskanzler Helmut Kohl einschaltete. Als das Paar die Fotos von der Zeremonie für einen guten Zweck an die Bunte verkaufte, fragten sich viele: Wie kann man auch damit noch Geld scheffeln?

Als deutsche Hooligans 1998 in Lens den französischen Polizisten Daniel Nivel ins Koma prügelten und Schumacher sagte: Tiere, die so etwas anrichten, schläfert man ein, sorgte das ebenso für Aufregung wie Jahre später sein Bekenntnis, noch nie zur Wahl gegangen zu sein.

Mochten seine Worte auch kein politisches Gewicht haben, Schlagzeilen ließen sich aus ihnen doch formen. Seinen Auftritt an diesem Morgen in São Paulo zeichnen die Gesandten der Bild sogar auf Video auf. Umgehend landet er im Internet.

Schuhgröße, Lehrlingsgehalt - alles bekannt

Wenige Athleten wurden ähnlich lange ähnlich genau beäugt. Von Michael Schumacher ist nicht nur der Geburtstag - 3. Januar 1969 - bekannt, sondern auch die genaue Geburtsminute: 13.43 Uhr.

Nicht nur die Zahl der Fahrstunden ist überliefert, die er bis zum Führerschein benötigte - 21 -, auch der Name des Fahrlehrers: Karlheinz Itzel.

Als Kfz-Lehrling verdiente Schumacher als 18-Jähriger exakt 269 Mark pro Monat, heute sollen es geschätzte 40 Millionen Euro pro Jahr sein. Er misst 1,74 Meter und wiegt gut 70 Kilogramm.

Seine Schuhgröße: 40,6. Er ist recht gründlich vermessen. Über seinen Geschmack hingegen ist wenig bekannt. Die Tür zu seinem Privatleben hat er verschlossen gehalten. Nur so viel ist überliefert: Bücher und Musik haben wenig Bedeutung für ihn.

Voller Trauer zum Triumph

"Um einen Rennwagen zu steuern", hat der dreimalige Weltmeister Jackie Stewart einmal gesagt, "muss man konservativ sein - kein Radikaler, der zu Spontaneität und Begeisterung neigt."

Schumacher war wahrscheinlich der konservativste von allen. Er trug nie einen Bart, nie lange Haare. Er geht oft zum Friseur, auch vor seinem letzten Rennen ist er wieder dort gewesen. Als er für ein Foto seine Schildkappe kurz absetzt, ist zu sehen: Er hat sich wieder keine extravaganten Strähnchen ins Haar färben lassen.

Ayrton Senna, der große Held in der Generation vor ihm, konnte Reden halten.Wenn er aus dem Grenzbereich erzählte, hielten alle den Atem an. Der Franzose Alain Prost beeindruckte mit seiner Überlegtheit. Er fuhr wie er sprach, was ihm den Beinamen "Professor" einbrachte.

Niki Lauda bannte das Publikum mit seiner Unerschrockenheit: Von der Letzten Ölung gleich wieder in den Rennwagen - so lief das bei ihm. Bei Michael Schumacher lief es anders. Er ragte nicht wegen eines außergewöhnlichen Charakterzuges heraus, ihn zeichnet eine Summe an Eigenschaften aus.

Es gibt viele Piloten, die an einem guten Tag glänzen können, aber im Mittelmaß versinken, wenn es schlecht läuft, wenn es regnet oder Pech sie ans Ende der Startaufstellung spült.

Michael Schumacher waren die Umstände immer egal. Er hat im Regen gewonnen und im Trockenen, mit Acht- und Zehnzylinder-Motoren. Egal, was das Reglement auch vorschrieb: Er fuhr vorne mit.

Für ihn war alles zu beeinflussen. So selbstverständlich, wie er die Fitness trainierte, übte er Boxenanfahrten, besessen feilte er daran, wie er seinen Helm noch leichter, angenehmer, windschlüpfriger gestalten konnte.

Auch nach Übersee-Rennen erledigte er stupide Reifentests in Europa ohne zu murren. Sich ganz in einer Aufgabe zu versenken - das ist seine Art.

"Ich hatte immer schon die Fähigkeit, mich auf das Wichtige zu konzentrieren, das hilft mir jetzt auch", sagt er im Teatro Alfa über seine Gemütslage vor den letzten Runden.

Der Rücktritt - auch das ist für ihn eine Aufgabe, die er so gut wie möglich lösen möchte.

Bloß niemanden enttäuschen

Das Muster hat ihn immer geprägt, von Anfang an. Seine Eltern hatten nicht genug Geld, um ihm eine Karriere im Motorsport zu ermöglichen. Von früh an war er auf Gönner angewiesen, und von klein auf nahm er sich deshalb vor: Bloß niemanden enttäuschen! Auch wenn ich nicht gewinne - zumindest vorwerfen soll mir niemand etwas können.

"Ohne Disziplin geht nichts voran. Larifari ist bei mir nicht drin", hat er einmal gesagt. Ross Brawn, der den Großteil von Schumachers Karriere als Technikchef an seiner Seite verbracht hat, sagt: "Michael ist sehr loyal und sehr beständig. Du kannst dich darauf verlassen, dass er immer mit der gleichen Einstellung in die Box kommt."

Die Geschichte, die das am eindrucksvollsten erzählt, spielt am Ostersonntag 2003. In der Nacht zuvor war Michael Schumachers Mutter gestorben. Kurz vor ihrem Tod war er noch bei ihr, im Krankenhaus in Köln.

15 Stunden später wurde in Imola der Große Preis von San Marino gestartet, das Ferrari-Heimspiel - ein wichtiges Rennen. Schumacher war mäßig in die Saison gestartet. Nun bot sich ihm die Gelegenheit, Boden gut zu machen. Alle Augen richteten sich auf ihn.

Voller Trauer und Wut stieg er in seinen Wagen. Am rechten Arm trug er Trauerflor. Vor dem Start verzichtete er auf sein übliches Procedere, sprintete nicht noch einmal zur Toilette, gab keine Interviews.

Angeschnallt blieb er mit dem Helm auf dem Kopf mitten im Trubel in seinem Auto sitzen. Fast eine halbe Stunde lang. Als die Startampel erlosch, fuhr er los, als sei nichts gewesen. Und gewann.

Die Geschichte wirkt unendlich weit weg an diesem Morgen. Michael Schumacher lacht oft, er wirkt souverän. Seine Gesten sind routiniert. In der Anfangszeit wirkte er oft unbeholfen, unsicher.

Dass er aus dem Rheinland kam, war deutlich zu hören, auch wenn er Englisch sprach. Was er sagte, wirkte bemüht, vorformuliert.

Mit seinem ausgeprägten Kinn gab er eine Figur, die sich prima karikieren ließ: Es gab Wochen, in denen Harald Schmidt jeden Abend den Schumi-Daumen vor einem grölenden Publikum in die Kamera reckte.

Das verkorkste Jahr

Der Schumi-Daumen hat auch im Teatro einen kurzen Auftritt, als Schumacher für ein Foto mit seinem Teamkollegen Felipe Massa an den Bühnenrand gebeten wird.

Massa ist 25 Jahre alt und noch ein wenig unbedarft. Kaum steht er in Position, reckt er den rechten Daumen den Kameras entgegen. Schumacher ahnt, was gleich kommen wird: Er wird aufgefordert werden, es seinem Kollegen gleich zu tun.

Also hebt auch er eine Hand, drückt den Daumen durch, spreizt aber gleichzeitig den kleinen Finger ab und rettet die Geste so: ein lässiger Surfer-Gruß statt des dümmlichen Fernfahrer-Hallos.

Es sind solche Kleinigkeiten, die verraten, zu welch gutem Schauspieler ihn die Jahre im Rampenlicht haben reifen lassen und zu welch geschicktem Diplomaten. Den Namen "Senna" nimmt er nicht in den Mund, um zu vermeiden, mit ihm verglichen zu werden. "McLaren" sagt er auch nie - weil er Ron Dennis, den Chef des Teams, nicht mag.

In den vergangenen Jahren hat er den Kokon um sich immer enger gezogen, die Menschen im Fahrerlager klar eingeteilt: in Freunde und Feinde. Gegner wie Jacques Villeneuve oder Juan Pablo Montoya strafte er bei jeder Gelegenheit mit Missachtung, doch wer einmal seinen Respekt errungen hatte, dem blieb er stets gewogen.

Mika Häkkinen, der WM-Rivale der Jahre 1998 bis 2000, ist dafür ein Beispiel, Willi Weber ein anderes. Dem Manager, mit dem er in die Serie kam, blieb Schumacher immer treu - auch als herauskam, dass der vielleicht nicht immer nur ehrenwerte Geschäfte betrieben hatte.

Das System Schumacher

Im System Schumacher kam ihm eine exakt definierte Rolle zu, wie den Physiotherapeuten oder der Pressesprecherin auch. Michael Schumacher braucht das, im Privaten wie im Beruf: ein Refugium. Deshalb hat er sich auch so wohl gefühlt bei Ferrari. Weil das Team ein Nest um ihn baute.

Nach dem verkorksten Jahr 2005 kam er noch einmal groß zurück. Fernando Alonso war ihm ein würdiger Gegner. Der junge Spanier trieb den routinierten Deutschen noch einmal an seine Grenzen.

So viele außergewöhnliche Rennen wie in dieser Saison hat Michael Schumacher schon lange nicht mehr gezeigt. Er ist austrainiert, das ist deutlich zu sehen. Über den Wangenknochen spannt die Haut, und die Formen der strammen Oberkörpermuskeln sind sogar durch den Pullover zu erkennen.

Der Zeitplan drängt. Im Teatro bleibt nur noch Zeit für eine Frage. Herr Schumacher, warum treten Sie ausgerechnet jetzt zurück, da Sie so blendend in Form sind? "Ich gehe nicht, weil andere stärker sind. Aber ich fühle, dass ich mir nicht mehr sicher bin, auch in Zukunft die Kraft und die Motivation aufbringen zu können, um konkurrenzfähig zu sein", sagt Michael Schumacher: "Der Akku ist einfach leer." Es ist seine letzte Botschaft. Dann schließt sich der Theatervorhang.

© SZ vom 21.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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