Rot-Weiss Essen:Bratwurst ohne Chichi

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Stadtheiliger: Willi „Ente“ Lippens 1969 im Rot-Weiss-Essen-Dress. (Foto: SZ-Archiv)

Mönchengladbachs Pokalgegner sucht seine Nische im kommerzialisierten Sport.

Von Sebastian Fischer, Essen/München

Es ist eher unwahrscheinlich, dass Borussia Mönchengladbach an diesem Freitag beim DFB-Pokalspiel in Essen Berti Vogts als Manndecker aufstellt. Schließlich ist Vogts schon 70, die Borussia hat in Matthias Ginter einen Weltmeister für die Abwehr verpflichtet und mit Manndeckern spielt im modernen Fußball sowieso keiner mehr. Doch für den Fall der Fälle, sagt der Vorstandsvorsitzende Michael Welling, ist Rot-Weiss Essen bereit: "Dann spielt Ente Lippens."

Welling meint das witzig, doch theoretisch wäre es möglich. Willi Lippens, 71, der in den Siebzigern zu Essener Bundesligazeiten besonders gerne gegen Vogts und Gladbach spielte, besitzt einen Spielerpass, einer von vielen Marketing-Gags der vergangenen Jahre. Und den modernen Fußball nehmen sie in Essen auch nicht ganz so ernst. Obwohl sie demnächst endlich wieder richtig mitmachen wollen.

RWE, der Pokalsieger von 1953, ist in diesem Sommer in einer Art Aufbruchsstimmung, nicht nur weil Essen am Freitagabend Gladbach in der ersten Pokalrunde empfängt und die 18 500 Tickets in 17 Minuten ausverkauft waren. Sondern weil sie gerade so viele Pläne haben wie noch nie, aus der Regionalliga aufzusteigen.

Essen hat selbst in der vierten Liga einen Schnitt von 7863 Zuschauern. Wer ein Heimspiel im 2012 neugebauten Stadion an der Hafenstraße sieht, der bemerkt atmosphärisch keinen Unterschied zur zweiten Liga. Der Wirtschaftswissenschaftler Welling, 45, inzwischen seit sieben Jahren im Verein, hat das offenkundige Potenzial seit sieben Jahren erkannt. Jetzt sieht er den Klub auf dem richtigen Weg, er sagt: "Harte, nachhaltige Arbeit zahlt sich aus."

Der erste Aufstiegsplan ist Wellings Streit mit dem DFB um eine Reform der Regionalliga, in der zurzeit die Meister der fünf deutschen Staffeln (und der Südwest-Zweite) eine Relegation spielen müssen. Unter Wellings Leitung haben die zahlreichen Kritiker des aktuellen Modells einen Gegenentwurf entwickelt: eine zwei- oder dreigleisige vierte Liga zwischen der dritten Liga und der Regionalliga.

Das wichtigste Ziel: durchs Nadelöhr hoch in die dritte Liga

Es gebe Mehrheiten für eine Reform, sagt Welling. Doch der DFB verweigere sich einer inhaltlichen Diskussion. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich in naher Zukunft etwas ändert. Um es irgendwie doch zu schaffen, nach sechs Jahren in der vierten Liga durchs Nadelöhr in den Profifußball aufzusteigen, hat Welling aber noch ein paar weitere Ideen.

Er hat vor einem Jahr die Initiative "Zusammen Hoch 3" ins Leben gerufen, das bedeutet: binnen drei Jahren in die dritte Liga. Auf Plakaten in der Stadt war er mit Albert-Einstein-Frisur zu sehen, daneben die Formel "E=mc³". Dauerkarteninhaber und Sponsoren wurden dazu aufgefordert, freiwillig einen Aufschlag zu zahlen, das brachte rund 300 000 Euro ein. RWE ist schuldenfrei. In diesem Jahr hat der Klub eine neue Kampagne gestartet, um noch mehr Mitglieder zu werben, die Zahl soll von 5100 auf 6500 steigen.

Und, nächster Plan: Auf der Mitgliederversammlung im Juni bekam der Vorstand die Genehmigung, Modelle zur Ausgliederung der Lizenzspielerabteilung in eine Kapitalgesellschaft und zum Einstieg von Investoren zu entwickeln.

"Fußball ohne Chichi", so nennt Welling das Essener Alleinstellungsmerkmal, Bratwurst statt Cheerleader, "auch wenn wir uns der Kommerzialisierung öffnen". Fans sind eingeladen, sich an den Plänen zu beteiligen, Investoren sollen den Klub verstehen. Außerdem kann sich der Verein des Segens der Helden von einst gewiss sein - Lippens, Otto Rehhagel, Frank Mill, alle sind in die Projekte eingebunden. RWE ist ein Beispiel dafür, wie der Fußball in der Gesellschaft einer Stadt verankert sein kann, unabhängig von kurzfristigen Erfolgen. Zum Klub gehört der Verein "Essener Chancen", der sich für sozial Benachteiligte einsetzt. Der Spiegel widmete RWE deshalb neulich vier Seiten, die Sport-Bild fragte: "Lebt der Mythos RWE wieder auf?"

"Der Mythos war nie tot", sagt Welling. Das einzige Manko ist die Erfolglosigkeit. Vor zwei Jahren kämpfte der Klub gar gegen den Abstieg. Das erste Heimspiel gegen Wuppertal sahen nun zwar 10 607 Zuschauer, doch RWE verlor 1:3. Fans reagierten genervt, "aus Hoch 3 wird Hoch 30", schrieb einer. Denn der Essener Kader ist, aller Ambitionen zum Trotz, kein herausragender für die vierte Liga. Einer der bekannteren Fußballer unter vielen eher Namenlosen ist Kapitän Benjamin Baier, Bruder des Augsburgers Daniel Baier. Trainer ist der frühere Düsseldorfer Bundesligaprofi Sven Demandt. Sein Ziel ist es, vorne mit dabei zu sein. Für den Aufstieg hat RWE laut Plan ja noch zwei Saisons Zeit.

Welling freut sich, dass der große Fußball nun schon mal zu Besuch ist, bevor das bald regelmäßig der Fall sein soll. Und auch wenn er findet, dass alles außer ein klarer Gladbacher Sieg eine Sensation wäre, hat er doch Hoffnung, dass sich etwas von der vielen Arbeit schon am Freitag auszahlt. Welling, seit dem Studium im Ruhrgebiet zu Hause, sagt: "Verlieren is' immer scheiße."

© SZ vom 11.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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