Rollstuhl-Basketball:In Bedrohungslage

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Ungewisse Zukunft: Deutschlands Kapitänin Mareike Miller (Mitte) muss ihre Einschränkung vor den Paralympics neu belegen. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Der Disziplin droht der Ausschluss von den Paralympics im Sommer, weil der Weltverband seine Klassifizierung noch nicht an das gültige System angepasst hat.

Von Sebastian Fischer, München

Mareike Miller war mit den Gedanken schon in Tokio. Im Januar hatte sich die Nationalmannschaft der Rollstuhlbasketballer zum ersten Trainingslager des Jahres in Vorbereitung auf die Paralympics getroffen, voller Vorfreude auf den Höhepunkt des Jahres, so beschreibt es Miller, die Kapitänin. Familien vieler Spielerinnen, sagt sie, hätten längst Flüge nach Japan gebucht, Unterkünfte gesucht, Tickets gekauft. Doch jetzt ist plötzlich nicht mehr klar, ob bei den Paralympics vom 25. August bis 6. September überhaupt Rollstuhlbasketball gespielt wird. Und Miller, 29, Goldmedaillengewinnerin 2012 und Silbermedaillengewinnerin 2016, muss nachweisen, dass sie beeinträchtigt genug ist, um eine paralympische Athletin zu bleiben.

"Ein Schock" - so beschreibt sie, wie sie am vergangenen Freitag die Nachricht aufnahm, die das Internationale Paralympische Komitee (IPC) als Pressemitteilung verschickte: Rollstuhlbasketball könne seinen Platz im Programm für die Spiele 2020 verlieren, falls der Weltverband IWBF nicht bis zum 29. Mai einen Plan zur Verbesserung der Klassifizierung der Athleten umsetzt. Für die Paralympics 2024 ist der Sport vorerst gestrichen. Derzeit seien die Klassifizierungen von IPC und IWBF nicht kompatibel. Manche Athleten, die von der IWBF als Behindertensportler anerkannt sind, erfüllen die Richtlinien nach Definition des IPC womöglich nicht.

Es ist die Eskalation einer auch moralisch aufgeladenen Debatte. "Es hätte nie dazu kommen dürfen", sagt Miller.

Rollstuhlbasketball ist eine der populärsten paralympischen Sportarten, auch weil sie besonders inklusiv ist: Menschen mit verschiedenen, von schweren bis sehr geringen Einschränkungen spielen gemeinsam. Darauf ist ein spezielles System zur Klassifizierung ausgerichtet: Athleten werden in Kategorien von 1,0 bis 4,5 unterteilt - je nachdem, welche Funktionen sie ausüben können, wenn sie in einem Rollstuhl sitzen. Insgesamt darf ein Team 14 Punkte aufs Feld bringen. Die am schwersten behinderten Ein-Punkt-Spieler können den Rumpf nicht kontrollieren; 4,5-Punkte-Spieler können den Rumpf uneingeschränkt bewegen.

Der Generalsekretär ist sicher, dass alle Athleten den Vorgaben entsprechend eingeschränkt sind

Die Behinderung von der 4,5-Punkte-Spielerin Miller wird offiziell mit "Knieschaden" beschrieben. Sie galt, unter anderem wegen vier Kreuzbandrissen, als Sportinvalidin, als sie mit dem Rollstuhlbasketball begann. Im Alltag geht sie zu Fuß.

Klassifizierungen gibt es in jedem paralympischen Sport, um den Wettkampf gerechter zu gestalten. Für das IPC sind übersichtliche und einheitliche Klassifizierungen aber auch elementar, um die Attraktivität der Paralympics zu steigern. 2015 hat das Komitee ein System beschlossen, das seit 2017 gilt und Behinderungen in zehn Gruppen einteilt, von geminderter Muskelkraft bis zu intellektuellen Beeinträchtigungen. Nur wer in eine Kategorie fällt, darf paralympischer Athlet sein. Seitdem ist bei der IWBF im Grunde klar, dass das weiter gefasste Klassifizierungssystem des Rollstuhlbasketballs angepasst werden muss. Geschehen ist lange eher wenig.

"Der Dialog ist sehr schleppend vorangegangen, was auch in der Verantwortung der IWBF liegt", sagt Norbert Kucera, seit 2018 Generalsekretär im Weltverband der Rollstuhlbasketballer. Seit Juni 2018 sei sein Verband in der Sache nun im regen Gespräch mit dem IPC, Entwürfe mit Umformulierungen und Anpassungen wurden hin und her geschickt. Doch offenbar führten sie nicht zum Ziel: Im Oktober 2019, sagt Kucera, habe er einen "sehr deutlichen" Brief von IPC-Präsident Andrew Parsons erhalten, einen Aktionsplan vorzulegen. Dies sei im Januar geschehen.

Kucera räumt Unterschiede in der Klassifizierung ein: Verglichen mit dem IPC-Code sei die Herangehensweise bei der IWBF "unmedizinisch", wenigstens in den Formulierungen. Aber er sagt auch: "Wir sind davon überzeugt, dass alle unsere Athleten nach IPC-Standards eine Behinderung haben." Dass das IPC dies nun infrage stellt und mit einer "Bedrohungslage" an die Öffentlichkeit ging, wie Kucera es nennt, hat ihn vorsichtig formuliert sehr geärgert. Er sieht seinen Verband, der nun wie jahrelang untätig dasteht, falsch dargestellt. Und er sagt zu Inhalt und Ton der Mitteilung: "Das verursacht natürlich Panik."

Bundestrainer Zeltinger kritisiert die Vorgaben als unzeitgemäß: "Das IPC ist auf einem Holzweg."

Die IWBF hat nun bis zum 31. August 2021 Zeit, den IPC-Code vollständig zu erfüllen, um 2024 wieder im paralympischen Programm vertreten sein zu können. Der kurzfristige, vom IPC abgesegnete Aktionsplan, um 2020 im Programm zu bleiben, sieht vor, dass alle 4,0- und 4,5-Punkte-Spieler nochmals klassifiziert werden müssen, und die Klassifizierung vom IPC ausgewertet wird - alles bis Mai.

Mareike Miller, die 4,5-Punkte-Spielerin und Nationalmannschaftskapitänin, nannte die IPC-Nachricht in einer Mitteilung des Vereins Athleten Deutschland "erschütternd und inakzeptabel". Sie sieht sich als Opfer der Verbandspolitik. Wie mehr als 300 Athleten weltweit - darunter drei deutsche Männer und sechs deutsche Frauen - muss sie, die mit 18 zum Rollstuhlbasketball kam und seit 2009 von der IWBF als Spielerin zugelassen ist, nun neue medizinische Gutachten einholen. Ob das IPC diese dann für ausreichend befindet, könne sie nicht beurteilen, sagt Miller, sie sei schließlich keine Ärztin. Und deshalb schaut sie in eine ungewisse sportliche Zukunft.

Seit vergangenem Freitag haben weltweit diverse Landesverbände ihren Ärger über die Folgen des Konflikts zwischen IPC und IWBF zum Ausdruck gebracht, der Schaden für den Rollstuhlbasketball ist jetzt schon groß. Doch nicht nur Unverständnis und Unsicherheit sind nun die Themen. Männer-Bundestrainer Nicolai Zeltinger etwa macht sich auch grundsätzlichere Gedanken darüber, dass sich die Klassifizierung im Rollstuhlbasketball ändern könnte. So viele Behinderungen zu vereinen, auch für Nichtbehinderte offen zu sein, wie es etwa in der Bundesliga üblich ist, "das ist ja gerade das Tolle an unserem Sport", sagt er: "Wir reden nicht mehr über die Behinderung." In einer Gesellschaft, in der Inklusion immer selbstverständlicher werden soll, sei der Einwand, Sportler könnten nicht behindert genug sein, um mit anderen Menschen mit Behinderung Sport zu treiben, "nicht mehr aus unserer Zeit". Zeltinger sagt: "Das IPC ist auf einem Holzweg."

Er organisiert gerade viel, spricht mit internationalen Kollegen, es geht um Hilfen für die kurzfristig betroffenen Spieler, um die Verfügbarkeit von Ärzten. Und dann wird er weiter arbeiten, so wie Mareike Miller weiter trainiert, als würde sie im August sicher bei den Paralympics antreten. Die Ariake Arena in Tokio, in der die Rollstuhlbasketballspiele stattfinden sollen, ist am vergangenen Sonntag feierlich vor mehr als 3000 Zuschauern eröffnet worden.

© SZ vom 06.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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