Rodeln:Nach dem Sturm

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Konzentration auf ihre vierten Olympischen Spiele: Tatjana Hüfner, Bronzegewinnerin 2006, Olympiasiegerin 2010 und Silbergewinnerin 2014, peilt nun die Spiele in Pyeongchang 2018 an. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Tatjana Hüfner ist mit 33 Jahren zurück in der Weltspitze. Der Frust und die Schmerzen sind weg. Zuversichtlich peilt sie Olympia 2018 an.

Von Volker Kreisl, Whistler/München

Der Winter in Whistler, weit im Westen von Kanada, ist gerade zauberhaft. "Stahlblauer Himmel, zehn Grad minus", sagt Robert Eschrich. Da kann man viel anfangen: "Man kann einen schönen Ausflug nach Vancouver machen, und gestern waren wir auf einem Berg." Doch die herrliche Freizeit in den Bergen macht Eschrich auch ein schlechtes Gewissen: "Denn dafür sind wir jetzt prinzipiell nicht da."

Eschrich betreut ja die Rodler, und die haben sonst immer ihren treuesten Gefährten dabei, den Rodel. Sie tragen ihn morgens aus der Werkstatt, holen ihn am Start aus dem Sack, der ihn vor den Blicken der Rivalen schützt, fahren mit ihm ein paar Mal zur Probe auf der Bahn, tragen ihn zurück in die Werkstatt im Hotelkeller und schleifen oder schrauben noch etwas an ihm herum. Und besonders viel Lust aufs Trainieren, Schleifen und Schrauben hatte mit Sicherheit die deutsche Rodlerin Tatjana Hüfner, nur, es war kein Schlitten da.

Am Samstag (ab 18.00 Uhr MEZ) wird ein kompletter Rodelweltcup erstmals an einem Tag ausgetragen. Zwei Trainingsläufe, dazu Frauen-, Männer-, und Doppelrennen in nur je einem Lauf - ein Rodelkonzentrat. Denn die Schlitten aller Weltcuprodler, so jedenfalls die Prognose, sollten Whistler erst am Freitagabend erreichen. Das sensible Kufenmaterial wurde wie immer in einem 40-Tonnen-Truck zur nächsten Rodelbahn gefahren. Nur der, so die offizielle Mitteilung, steckte seit Mittwoch auf seiner 3000-Meilen-Reise von Lake Placid/State of New York nach Whistler/British Columbia in einem Schneesturm fest, in der Nähe von Winnipeg/Manitoba.

Alle haben so eine Woche noch nicht erlebt, besonders bizarr war sie vermutlich für Tatjana Hüfner. Denn am Anfang stand ein Rekord. Hüfner hatte auf der schwierigen Bahn von Lake Placid ihren 37. Weltcupsieg errungen und damit den Rekord von Sylke Otto eingestellt, der führenden Rodlerin der Nullerjahre. Ein Rekord ist immer Anlass zur Freude für einen Athleten, doch Hüfner ist eine stille, unprätentiöse Persönlichkeit, weshalb ihr der Sieg an sich wohl noch mehr bedeutete. Er war der Beweis, dass sie wieder da ist. "Ich bin einfach stolz", sagt Hüfner. "Sie hat die Freude am Rodeln wiedergefunden", sagt Eschrich, der neue Schlitten-Mechaniker im Team.

Das hat mehrere Gründe, einer lagerte nun Tage lang im Laderaum hinter dem bedauernswerten Truckfahrer, auf dem Highway 1, im 70-Meilen-Stau und vom Schneesturm umtost: der Rodel. Denn Hüfners neuer Schlitten läuft so gut wie der aus alten Zeiten, als noch Wolfgang Scholz ihr Mechaniker war. Mit ihm hatte sie sich irgendwann gegen die ältere Generation durchgesetzt, hatte dank ihrer Anschubkraft in den Jahren 2008 bis 2012 fünf Mal den Gesamtweltcup gewonnen, war vier Mal Weltmeisterin und wurde 2010 Olympiasiegerin.

In Sotschi ließ sie ihrem Ärger bei einem legendären Auftritt freien Lauf

So hätte es für Hüfner eigentlich weitergehen können, und bei den nächsten Spielen in Sotschi holte sie ja auch Silber, doch statt ihrer Freude ließ sie in einem fast legendären Auftritt bei der Pressekonferenz ihrem Ärger freien Lauf, jenem Frust, der sich über drei Jahre angestaut hatte. Denn Gold hatte ihre interne Rivalin Natalie Geisenberger aus Bayern gewonnen. Und zwar deswegen, weil, wie Hüfner es empfand, Geisenberger all das hatte, was ihr abhanden gekommen war. Sie hatte ihren Trainer André Florschütz verloren und später ihren Schlittenbauer Scholz, der in Ruhestand gegangen war. Was sie zur Genüge hatte, waren Rückenschmerzen. Die Bayern dagegen waren bestens versorgt, der Rest der deutschen Rodler schien abgehängt zu sein.

Dass es dann doch ganz anders kam, "das ist kein Hokuspokus", sagt Eschrich, 31. Denn: "Wir haben eine freundschaftliche Atmosphäre." Klar, gute Stimmung ist immer und überall wichtig, aber im Rodeln besonders, sagt Eschrich: "Da musst du im Winter fünf Monate am Stück zusammenarbeiten." Rodeln ist ja die ständige Suche nach der Schlüsselstelle, nach der Mini-Korrektur im Minimalbereich. Und Hüfner brauchte einen wie Scholz, der die Bahn lesen konnte, das Eis, den Schlitten und die Gemütsverfassung seiner Rodlerin. Dessen Einsatz zahlte sie ihm in vielen Siegen zurück, und vielleicht wird es mit Eschrich ähnlich, jedenfalls sagt der: "Wir haben gegenseitig Vertrauen, wir können uns alles erzählen."

Nur in so einer Zusammenarbeit kann ein Weltklasse-Schlitten entstehen, der theoretisch so viel kostet wie ein Mittelklassewagen. Dazu tragen auch der neue Stützpunkttrainer Jan Eichhorn und die B-Kader-Coaches Norbert Hahn und Claudia Holzhäuser bei. Hüfners Aufblühen hat zudem mit ihrem speziellen Ehrgeiz zu tun, es mit 33 Jahren noch einmal allen zu zeigen, vielleicht sogar noch einmal eine olympische Goldmedaille zu holen, auch mit der Entspannung im deutschen Team und der nun guten Beziehung zu Geisenberger - doch der entscheidende Grund ist recht simpel: Sie hat keine Rückenschmerzen mehr. Ihren Bandscheibenvorfall hat sie von einem Physiotherapeuten behandeln lassen, nun paddelt sie am Start wieder Bestzeiten, und auch in Nordamerika steckt sie gerade voller Tatendrang, aber dazu braucht sie jetzt endlich mal einen Rodel.

Und das war alles nicht so einfach. Eschrich erzählt, der Truck mit den geschätzt 30 Mittelklassewagen an Bord sollte am Donnerstag umgeleitet werden nach Brandon/Manitoba, die Ladung per Luftfracht über Vancouver/B.C. nach Whistler gebracht werden. Das habe aber irgendwie auch nicht geklappt, berichtet Eschrich, es ging weiter über Land. Und wenn keine weiteren Blizzards dazwischen kamen, dann bewältigte der tapfere Fahrer die 1600 restlichen Meilen über Regina/Saskatchewan, über Calgary/Alberta und die Rocky Mountains noch rechtzeitig bis zur Rodelbahn unter dem blauen Himmel von Whistler.

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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