Reportage:"Sie sind doch der Klose?"

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Heute wird er gefeiert, doch lange wurde er unterschätzt - für den Torjäger wie für das ganze deutsche Team liegt auch darin das Geheimnis der Kraft.

Holger Gertz

Rieschweiler, im Juni - Für einen Augenblick könnten Miroslav Klose und Tobias Weis sich noch einmal ganz nahe sein. Halb eins, Essenszeit, gerade fängt die tägliche Pressekonferenz des DFB an, bei der Klose etwas sagen wird.

Tobias Weis müsste nur den Fernseher anstellen, dann könnte er Klose sehen, die Pressekonferenz wird live übertragen. Aber er muss ihn nicht sehen, er kennt ihn auch so. Der Fernseher bleibt aus, und sie essen lieber in Ruhe, Tobias, seine Frau und das kleine Kind. Es gibt Schnitzel mit Pommes.

Tobias Weis ist 34, er hat Kloses schmächtigen Körper, und er spricht, wie Klose spricht, weiches Pfälzisch mit einer speziellen pfälzischen Grammatik: "Für einen, der viel trainiert hat in Vereinen, wo net so die Jugendarbeit geföddert worden is, war der Miro schon relativ weit, als er zu uns kam."

Sogar beim Essen trägt Weis ein Fußballshirt, ein blaues. Darauf ist die Nummer 10. Klose trägt bei der WM die 11. Die 10 ist normalerweise die Nummer des offensiven Mittelfeldspielers, der im Kombinationsspiel die 11, den Stürmer, zum Leuchten bringt. Die 10 und die 11 gehören zusammen. So nahe waren sich Klose und Weis, ein Jahr lang. Sie spielten 1999/2000 für die Amateure des 1. FC Kaiserslautern.

Nordic Walker im Strafraum

Tobias Weis war schon lange da, Klose kam vom FC Homburg. Weis erinnert sich, wie er ihn das erste Mal sah, schon damals sah Klose so aus wie heute, hängende Schultern, ein fragender Blick schräg von unten.

Wenn er von der Mittellinie nach vorn lief, pendelten die angewinkelten Arme akkurat neben seinem Körper wie bei einem Nordic Walker mit unsichtbaren Stöcken. Aber dann, wenn das Spiel in Fahrt kam, begann er zu rennen. Oder, er brachte das Spiel selbst in Fahrt.

"Er sah nicht gefährlich aus, aber er war brandgefährlich." Wenn sie zusammen weg waren, Pfälzer Nachtleben, "hat Miro immer Sprudel getrunken, Alkohol hat er nicht angeschaut. Aber er war trotzdem dabei. Hat alles beobachtet, aus dem Hintergrund, und er sah aus, als ob er seinen Spaß -dabei hatte."

Das Schnitzel wird langsam kalt. Weis rührt es nicht an. Er erzählt, von damals. Was nur sechs Jahre zurückliegt, klingt bei Fußballern manchmal wie eine Erinnerung an eine fremde Zeit. Sie waren eine gute Mannschaft, aber in der Rückschau bleibt jeder Fußballer auch ein Einzelkämpfer, vor allem, wenn er Tore geschossen hat, an deren Zahl sich seine Qualität ablesen lässt.

Weis war ein sehr offensiver Mittelfeldspieler, wie Ballack. Klose war ein junger Stürmer. Weis lächelt, seine Frau lacht leise, sie weiß schon, was kommt. Er räuspert sich: "Miro hat damals - ja gut, das muss ich halt sagen - er hat damals die zweitmeisten Tore gemacht in der Saison, elf."

Dann schaut er auf den Teller, und dann schaut er einen an, und sein Blick sagt: Nun frag schon, wer die meisten Tore gemacht hat.

Also, wer? "Ich. Ich war der einzige, der mehr gemacht hat. 16 Stück."

Als Ende der Saison 1999/2000 bei den Amateuren des 1. FC Kaiserslautern die Treffer zusammengezählt wurden, war er besser als Klose. Danach liefen die Wege auseinander. Weis wechselte nach Karlsruhe, Zweite Liga, da schoss Klose längst Tore in der Bundesliga bei den Profis von Kaiserslautern.

Horrorverletzung

Weis wechselte nach Wattenscheid, Dritte Liga, da hatte Klose schon seine erste Weltmeisterschaft gespielt und fünf Tore geschossen. Kloses Name stand auf Trikots in den Fanshops, da lag Weis im Krankenhaus. Er hatte ein Spiel für Wattenscheid gemacht, ein einziges, dabei war ein Stück Knorpel im Knie abgeplatzt, eine Horrorverletzung für einen Fußballer.

Klose wechselte nach Bremen, Weis war in der Reha. Viermal wurde er operiert, dann sah er ein: Ich bin kein Fußballer mehr. Eine Horrorerkenntnis für jeden Fußballer. Jetzt macht Tobias Weis eine Umschulung, arbeitet in der Verwaltung bei der Gemeinde und ist Trainer bei Niederauerbach, Verbandsliga Südwest.

Und Klose? Klose hat schon viermal getroffen bei der WM, Pelé hat sich erklären lassen, wie man seinen Namen ausspricht.

Klose wird gerade zum Weltstar.

Sie waren sich ganz nahe, Weis und Klose. Und jetzt sind sie so weit voneinander entfernt. Der eine hat also alles Glück gehabt, was dem anderen fehlte?

"Wissen Sie was?", sagt Tobias Weis. Er hat Erfahrung mit Medien, auch in der Zweiten Liga gibt man Interviews. Er weiß, wie man das Wichtige hervorhebt. Durch eine vorangestellte Pause. Danach kommt das Wichtige: "Der Miro hat sich das erarbeitet. Nee, der Miro hat alles verdient, was er jetzt kriegt. Alles. Da hätte man doch blind sein müssen, um nicht zu merken, was aus dem wird."

Vor ein paar Monaten merkten das manche noch nicht. Die WM ist ein Fest, bei dem viele mitjubeln, die sich im Alltagsfußball nicht so gut auskennen. Und wenn jetzt alle diesen Miroslav Klose so feiern, sagt das auch, dass sie ihn vorher unterschätzt haben.

Als erster Deutsch gelernt

Vor ein paar Monaten jedenfalls konnte man tun, was man - wenn die WM tatsächlich so weitergeht - vermutlich bald nicht mehr tun kann: mit Klose im Bremer Café Ambiente ein Bier trinken, oder ein Wasser, er trinkt ja kein Bier.

Man konnte auf die Weser sehen, die - wie alle Bremer wissen - einen Bogen macht, da, wo das Stadion ist. Man konnte sogar die Flutlichtmasten im Nordnebel sehen, es war ein kalter Wintertag, und Miroslav Klose saß an Tisch 36, er trug Jeans und Pulli und sah eher nach Fan aus als nach Fußballer.

Es war wie heute im Esszimmer der Familie Weis: Einer fragt, einer antwortet in spezieller pfälzischer Grammatik und in diesem Singsang, der jedes auf "ch" endende Wort in einem Sch-Laut stranden lässt.

Das Café war voller Menschen, aber sie beachteten ihn kaum. Klose verändert nicht die Stimmung in einem Raum, den er betritt. Er verändert die Stimmung in einem Strafraum, den er betritt.

Er erzählte, wie er aus Polen nach Deutschland gekommen war, als Achtjähriger. Er konnte nur zwei Wörter auf Deutsch: Danke und Ja. Wie er dann, als Erster in seiner Familie, Deutsch lernte, er musste sich ja mit den anderen auf dem Platz verständigen, sie waren in Kusel gelandet, in der Pfalz.

"Mein Vorteil war, dass ich auf dem Bolzplatz besser war als die anderen", sagte Klose. "Da wollte mich jeder in seiner Mannschaft haben, und deshalb bin ich da schnell aufgenommen worden."

Wegtrainierte Zweifel

Der Fußball war nicht einfach ein Beruf, er war ein Weg. Tobias Weis sagt jetzt: "Am Anfang hat er bei uns kaum Kontakt gehabt, grad deswegen hat er das Ganze auf der Basis gemacht: ,Ich will Leistung bringen, dann werde ich auch Anerkennung erhalten.'"

Miroslav Klose, gerade 28 geworden, hat trotz allem nie in der Jugendnationalmannschaft gespielt oder in einer Auswahl. Er ist übersehen worden. "Ich bin überall in den ganzen Lehrgängen, um es brutal zu sagen, rausgeschmissen worden - weil ich zu schlecht war."

Einmal immerhin schaffte er es bis zum Training für die Südwestdeutsche Auswahl. Seine Eltern brachten ihn hin, der Lehrgang sollte eine Woche dauern. "Wir kamen morgens an und mittags hatten wir Training und abends kam der Trainer zu mir und hat gefragt, ob meine Eltern schon zurückgefahren wären. Weil: Sie könnten mich wieder abholen. Da hatte ich nicht mal einen Tag geschafft. Da ist die Welt zusammengebrochen."

Sein Vater Josef war selbst Profi in Auxerre in der zweiten französischen Liga, seine Mutter Barbara war Handballnationalspielerin in Polen. Er hat noch bei ihnen gewohnt, als er schon erwachsen war, und es war im Bremer Café ein fast privater Moment, als Klose von seinen Eltern sprach, wie sie ihn immer im Auto überall hingebracht hatten.

Er wischte sich leicht über die Augen, als er von seinen Eltern sprach, und er sah aus wie ein großer Junge, dabei hatte er da schon in 14 Spielen 16 Mal getroffen für Werder. Er hatte die gewaltigen Bayern-Verteidiger fast aus den Schuhen gespielt.

Er hatte gegen Köln ein wunderbares Tor geschossen, eine Körpertäuschung ließ alle Verteidiger auf dem Hosenboden über den Rasen schlittern. Und Klose war frei und traf, und es sah fast arrogant aus, dieses Tor, so elegant und leicht, dass er sich danach bei den Verteidigern entschuldigte. Verarschen habe er sie nicht wollen.

Er hatte sich die Bälle geholt, grätschend wie ein Verteidiger; hatte sie verteilt wie ein Regisseur: Klose war nicht nur bester Schütze der Liga, auch bester Vorbereiter, er hatte die ganze Saison nicht schlecht gespielt, und wenn er mal mittelmäßig spielte, war er wenigstens gerannt.

Aber er saß in diesem Café wie ein Nobody, anderthalb Stunden lang, und musste in der ganzen Zeit nur ein einziges Autogramm geben. Ganz zum Schluss des Interviews, ein Mann im Anzug kam mit einem Blatt Papier.

"Sie sind doch der Klose?", fragte der Mann. "Genau", sagte Klose, und dann bat der Mann um ein Autogramm für seinen Sohn Philipp. "Für Philipp", schrieb Klose, und darunter malte er ein Gewirr aus Bögen und Strichen, sein Autogramm.

Wenn die Nationalspieler in Berlin ins ICC kommen, zur Pressekonferenz, treten sie aus dem Schatten auf eine grünlich beleuchtete Empore, die eine Bühne ist. Sie fremdeln noch immer auf dieser Bühne, die dünnen Arme des Verteidigers Mertesacker schlackern rum, als gehörten sie nicht zum Restkörper, während er den langen Weg zu seinem Platz geht, und Stürmer Lukas Podolski will von der Bühne immer so schnell wieder runter, dass er nach Ende der Pressekonferenz beim Abgang einmal fast vom Podest gefallen wäre.

Die Fußballer reden viel von Emotion und Energie, weniger von Taktik, und wenn sie wieder im Schatten hinter der Bühne verschwunden sind, lassen sie die Zuhörer halbwegs ratlos zurück.

Unterschätzung als Kraftquelle

Was Klinsmann und sein Trainerstab mit ihnen gemacht haben, wie es ihnen gelungen ist, aus einer Loser-Mannschaft binnen Wochen ein Team werden zu lassen, dem viele alles zutrauen - es ist ein Geheimnis. Klar scheint zu sein, dass Klinsmann die Unterschätzung als Kraftquelle ausschöpft.

Wer verhöhnt worden ist, oder wer nicht gesehen worden ist, der muss den Zeitpunkt erkennen, es den Kritikern zu zeigen. Sich beweisen wollen kann einen fliegen lassen. Per aspera ad astra, auf rauen Pfaden zu den Sternen.

Der Zeitpunkt ist jetzt.

Miroslav Klose, begabt und still, ehrgeizig und schüchtern, ist früher verhöhnt worden. Seine vielen Tore bei der vergangenen WM, was waren die wert, drei davon hatte er doch gegen Saudi-Arabien gemacht. Danach ist er übersehen worden, eigentlich bis zu dieser Weltmeisterschaft.

Übersehen zu werden kann schlimmer sein als verhöhnt zu werden. Aber er hat es schon vielen gezeigt, den Jugendtrainern, die sein Talent nicht erkannt haben. Er hat die Zweifel wegtrainiert. Er hat es den Werder-Fans gezeigt, die seine Ablöse für zu hoch hielten.

Klose kostete vor zwei Jahren fünf Millionen Euro, jetzt ist er das Sechsfache wert. Er hat es dem ehemaligen Bayern-Trainer Hitzfeld gezeigt, der ihn vor Jahren hätte holen können, aber lieber Roy Makaay wollte. Er hat es den Produktmanagern gezeigt, die vor der WM lieber mit Podolski und Schweinsteiger geworben haben und ihm erst jetzt die Bude einrennen.

Poldi und Schweini sind die Helden der nabelgepiercten, über dem Steiß tätowierten Spaßgesellschaft, die im Stadion sitzt und "Viva colonia" brüllt, während die Schweiz sich gegen die Ukraine abmüht. Poldi und Schweini turnen durch die Träume der unruhigen Mädels, die sich "Mach mir ein Kind" auf den Bauch malen und aufgeregt kreischen, wenn die Kamera im Stadion ihr Bild auf den Videowürfel überträgt.

Klose wirkt in diese Party-Gesellschaft wie hineinmontiert, gleichzeitig ist er im Moment ihr Zentrum. Er lässt die Massen toben, ausgerechnet er, Vater von Zwillingen, dessen Dialekt klingt wie der von Fritz Walter und der gerade vom ruhigen Bremen an den Stadtrand gezogen ist, weil es da noch ruhiger ist.

Er hat es vielen gezeigt, aber es müssen immer noch welche überzeugt werden, der alte brasilianische Stürmer Jairzinho zum Beispiel, der gerade in einem Interview gefragt hat: "Warum kann der Klose eigentlich kein Kopfballspiel?"

Als Klose früher seine Tore noch mit dem Kopf machte, vor allem mit dem Kopf, fragten alle: Warum trifft er nicht mit dem Fuß? Oder die Reporter der italienischen Zeitung La Gazzetta dello Sport, die neulich geschrieben haben: "Er wird nie ein Ronaldo sein und nie etwas mit Totti zu tun haben. Klose ist nicht schön, und sein Fußball ist nicht schön."

Klose hat neun WM-Tore, gleichauf mit Uwe Seeler und Karl-Heinz Rummenigge. Ronaldo hat 15, okay, aber ist er schön? Totti ist schön, aber trifft er wie ein Stürmer?

Ein letzter Makel

Manchmal kommt auch Miroslav Klose auf das Podium im ICC. Manchmal sagt er dann Sachen, die nicht nach dem Klose klingen, der seine Karriere gebaut hat, ruhig und konzentriert wie ein Zimmermann einen Dachstuhl. Er hat Zimmermann gelernt.

Vor dem Viertelfinale an diesem Freitag gegen Argentinien hat er gesagt, Argentinien sei stark, "aber die haben leider das Pech, gegen uns zu treffen". Es klang gewollt martialisch. Klose sprach wie Mike Tyson, aber Klose sah wie Klose aus, und die Aussage verkehrte sich irgendwie ins Gegenteil.

Es klang, als hätte ihm jemand den Auftrag gegeben, jetzt einen Spruch rauszuhauen. Klose hat inzwischen einen Medienberater, die beiden sollen geübt haben, wie man sich öffentlich verkauft, aber der sprechende Klose wirkt lange nicht so gefährlich wie der stürmende.

Im Achtelfinale liefen drei Schweden auf ihn zu, Alexandersson und Lucic und Mellberg. Ihre Panik war Ausdruck größter Anerkennung. Klose bedankte sich, indem er den Ball in den ungeschützten Raum legte. Von dort traf Podolski, 2:0.

Jetzt geht es gegen Argentinien. Klose muss sich beweisen, wie immer, denn es liegt ein letzter Makel auf seiner Karriere: Dass er gegen die Großen nicht gut spielt. Argentinien ist sehr groß. Kloses Makel ist der der deutschen Nationalmannschaft, und er bietet eine Chance.

Tobias Weis sagt, wer den Klose kennt, der sieht die Entwicklung. Der hat trainiert und geübt, hat erst gegen Pirmasens gut gespielt, und irgendwann gegen Bochum so gut wie gegen Pirmasens, und irgendwann gegen Bayern so gut wie gegen Bochum, und irgendwann gegen Schweden so gut wie gegen Bayern. Er zweifelt nicht daran, dass er gegen Argentinien so gut sein kann wie gegen Schweden. " Wie der drauf ist, Wahnsinn."

Tobias Weis hatte einen Traum: bei einer WM zu spielen. Aber es reichte nicht mal für die Bundesliga. Also schaut er jetzt WM, und während er schaut, tritt er den Ball, in Gedanken.

Alle ehemaligen Fußballer spielen in Gedanken mit, unter dem Tisch zuckt dauernd ihr Fuß. Er wird ein Trikot tragen, sie werden sich nahe sein, und er wird Klose den Ball servieren, in Gedanken, wie er es früher in echt nicht immer getan hat. Früher waren sie Konkurrenten. Wer trifft öfter?

Heute ist er Fan. "Ich seh' den da noch stehen, so ein schmaler Kerl mit seiner Sprudelflasche." Und dann ist Klose losgezogen, und irgendwo wird er ankommen. Tobias Weis sagt: "Ich bin auch irgendwie stolz, dass ich meine Füße da ein bisschen mit drin gehabt habe in der Karriere vom Miro."

© SZ vom 30.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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