Holger Baum reichte es. Als es zu toll wurde, ließ der Veranstalter des Reitturniers in Wallau bei Frankfurt am letzten August-Wochenende die Turnierparty abbrechen. Was ein Spaß für die Reiter sein sollte, artete zu einer wüsten Alkohol-Orgie aus. Und es war nicht das erste Turnier, bei dem angetrunkene junge Reiter mit Autos über Koppeln und Abreiteplätze bretterten.
Zu dem Zeitpunkt wussten die jugendlichen Akteure - es sind immer dieselben vier, fünf Namen, die auffallen - bereits, dass das Magazin Der Spiegel einen Bericht über skandalöse Zustände in der Reitszene plante. Die am Samstag veröffentlichen Vorwürfe sind massiv: Auf sechs Seiten geht es um Alkoholexzesse, sexualisierte Gewalt, Sex-Strichlisten, die Angst von jungen Reiterinnen vor K.o.-Tropfen und zerlegte Hotelbetten.
So soll etwa bei den deutschen Jugendmeisterschaften 2017 in Aachen ein stark angetrunkener Reiter ein Mädchen sexuell bedrängt und, als sie sich wehrte, damit gedroht haben, ihre 15-jährige Schwester zu vergewaltigen. Die Schwestern beziehungsweise ihre Eltern meldeten den Vorfall der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN), deren Disziplinarkommission den Reiter zu einer Sperre von 18 Monaten verurteilte. Der Reiter ging in Berufung, jetzt muss sich das große FN-Schiedsgericht mit dem Fall befassen. Trotz des laufenden Verfahrens wurde der Reiter, der anders als seine Kumpanen nicht aus betuchtem Hause stammt, von Bundestrainer Otto Becker international eingesetzt - mit Hinweis auf die "Unschuldsvermutung". Inzwischen hat der Verband wegen des Vorgangs Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Münster erstattet.
Dem Verband wird vorgeworfen, das Problem zu lange ignoriert zu haben
Ein anderer, damals 17-jähriger Springreiter aus einer reichen Unternehmerfamilie wurde mit einer Geldstrafe belegt. Der Landesverband Rheinland verbuchte dies als "jugendtypisches Fehlverhalten" und hatte mit dem Hinweis auf den Jugendschutz den Vorfall nicht nach Warendorf in die FN-Zentrale gemeldet.
Der Verband spricht von Einzelfällen und sieht kein strukturelles Problem. Generalsekretär Soenke Lauterbach sagte bei einer rasch einberufenen Pressekonferenz in der Verbandszentrale am Samstag: "Ich glaube nicht, dass unser Sport ein massives Problem generell hat. Wir haben eine Gruppe von jungen Aktiven, die definitiv hier ein Problem haben. Wir betreiben schon seit einigen Jahren Präventivmaßnahmen, insgesamt gegenüber sexualisierter Gewalt. Jetzt kommt noch Alkohol in nie dagewesener Dimension hinzu." Also handelt es sich offenbar nicht um Einzelfälle.
Zudem wird der FN von Turnierveranstaltern wie Holger Baum vorgeworfen, das Problem zu lange ignoriert zu haben. "Es wurde viel zu lange weggeschaut", sagt auch der viermalige Olympiasieger Ludger Beerbaum, der in Riesenbeck regelmäßig Turniere veranstaltet. "Wir brauchen klare Regeln und Kontrollen bei Reitern." Wer mit zu viel Alkohol erwischt werde, sollte ausgeschlossen, beim zweiten Mal auch längerfristig gesperrt werden. Tatenlosigkeit will sich der Verband nicht vorwerfen lassen. Vor Erscheinen des Spiegel-Beitrags wurde schnell ein Maßnahmenkatalog zum Thema Alkoholmissbrauch zusammengestellt. Dazu gehört die Anschaffung von zwei Atemtestgeräten, die aber bisher nur "bei Verdacht" eingesetzt wurden.
Außer in den beiden genannten Fällen wurde bisher seitens der FN nicht ermittelt. Der Reiterverband fordert die Redaktion daher auf, "substantielle Hinweise" zu den weiteren geschilderten Vorfällen zu geben, um sie verfolgen zu können. Schuld an den Alkoholexzessen sind nach Ansicht der für den Reit-Nachwuchs zuständigen FN-Abteilungsleiterin, Maria Schierhölter-Otto, oft auch die Eltern. Sie würden dem Treiben ihres Nachwuchses nicht nur billigend zuschauen, sondern oft noch durch Alkoholeinkäufe die nächtliche Saufgelage unterstützen, sagt sie. Darauf angesprochen, bekomme sie dann Antworten wie: "Ihr da in Warendorf braucht nicht unsere Kinder zu erziehen." Das sei, findet Schierhölter-Otto, "eine neue Generation von Eltern, die das ganz anders sehen als die meisten von uns."
Tatsache ist, dass junge Reiter häufig in einem ausgesprochen trinkfreudigen Umfeld sozialisiert werden. Das Pferd hat noch ein paar Halme Stroh im Schweif, wenn der Reiter draufsitzt? Dann gibt eine Runde im Reiterstübchen, meistens Schnaps oder anderes Hochprozentiges. Er fällt vom Pferd? Das kostet ebenfalls eine Runde. Trinkende Vorbilder gibt es auch im Spitzensport bis hin zu Olympiareitern. Werden die Exzesse in Hotelbars bekannt, ernten sie allenfalls kumpelhaftes Gelächter; vor Jahren ertränkte sich ein britischer Springreiter beim Dortmunder Turnier fast selbst, als er alkoholisiert seinen Kopf in ein Aquarium zu tauchen versuchte. Gesehen haben es viele, noch mehr haben davon gehört, aber niemand wäre wohl bereit, es vor Gericht zu bestätigen.