Immerhin das Ende ist vertraut. Der populärste und beste Spieler seines Sports sitzt auf dem Podium, er hat das Turnier gewonnen und gibt nun die üblichen Sieger-Kommentare ab. Aber auf dem Weg zu diesem Moment ist doch manches ungewohnt verlaufen. Fast 160 Sportler befanden sich in einem Raum und spielten gleichzeitig, ständig wechselten sie Plätze und Bretter. Sehr hektisch ging es bisweilen zu, ab und zu fielen sogar ein paar Figuren um, und einmal schlug ein Weltklasse-Profi die Hände zusammen, weil ihm ein Fehler unterlaufen war, den selbst ein Amateur beim Klubabend im Gasthof zur Post vermieden hätte.
Und das Ganze nennt sich Schach. Schach-Weltmeisterschaft sogar.
Schach ist normalerweise, wenn sich zwei Spieler den halben Tag gegenüber sitzen, viel und ausgiebig grübeln, einen Zug berechnen und wieder verwerfen. Ab und zu bewegt sich eine Figur, und nach ein paar Stunden ist Schluss. Schach ist ein Denksport, und denken hat zur Folge, dass es ein bisschen länger dauern kann.
Magnus Carlsen will sein WM-Triple verteidigen
Welch einen Gegensatz dazu bildet in diesen Tagen das Geschehen in der Berliner Bolle Meierei. "Rapid-WM" heißt die Veranstaltung. Die grundsätzlichen Regeln sind gleich, die Figuren ziehen wie gewohnt, und Matt bleibt Matt, aber es gibt einen entscheidenden Eingriff: bei der Bedenkzeit. Eine normale Partie dauert fünf bis sieben Stunden. Beim Berliner Schnellschach-Turnier über 15 Runden, das am Montagabend mit dem Sieg von Magnus Carlsen endete, hatte jeder Akteur pro Partie nur 15 Minuten plus zehn Sekunden Aufschlag pro Zug; im Blitzschach-Wettbewerb, der 21 Runden umfasst und noch bis Mittwochabend dauert, sind es gar nur drei Minuten plus zwei Sekunden Bonus pro Zug. Und Skeptiker fragen: Ist das noch Schach?
Schnell- und Blitzschach haben durchaus Tradition. Schon 1914 duellierten sich die Großmeister Capablanca und Lasker in diesem Format, später zeichneten sich Michail Tal (Sowjetunion) oder Viswanathan Anand (Indien) mit ihren Fähigkeiten im Schnellziehen aus. Amateur- und Vereinsspieler lieben diese Varianten ohnehin. Aber bei diversen Großmeistern genossen Partien mit kurzer Bedenkzeit lange keinen guten Ruf. Die Wohlwollenderen empfanden sie nur als netten Zeitvertreib, die Kritischen erklärten gelegentliches Schnellspielen gar zur Ursache für sinkende Leistungen im klassischen Schach. Bei WM-Turnieren mit langer Bedenkzeit gehört es inzwischen zum Reglement, dass bei einem Gleichstand nach zwölf Partien die Entscheidung im Schnellschach fällt. Es gibt eine Fraktion der Schach-Puristen, die das für Glücksspiel und eine Beleidigung des Denksports hält, schlimmer noch als ein Elfmeterschießen im Fußball. Erst neulich bekamen diese wieder Futter: Beim Finale des Weltcups in Baku lieferten sich Peter Svidler und Sergej Karjakin einen sensationellen Stichkampf, voller Emotionen und Spannung - aber auch voller leichter Fehler.
Doch insgesamt ändert sich die Einstellung gegenüber den schnellen Varianten. Seit 2006 gibt es eine offizielle Blitz-, seit 2012 eine Schnellschach-WM des Weltverbandes. Dazu existieren inzwischen auch eigene Weltranglisten. Das Gros der Großmeister meidet oder belächelt Schnellschach nicht mehr, sondern sieht es grundsätzlich positiv; nicht umsonst ist in Berlin das bisher beste Starterfeld einer Rapid-WM zusammen gekommen.
Die Wahrnehmung des Denksports ändert sich gerade immens. Das liegt an Weltmeister Magnus Carlsen, dem norwegischen Posterboy, der mit seiner Art das Schach zu einer lange nicht gekannten globalen Popularität geführt hat. Dazu ist kaum eine Sportart so internet-affin, weil sich zu Hause am Rechner alle Züge leicht mitverfolgen und in jeder Stellung eigene Gedanken ausprobieren lassen. Und Varianten wie Schnell- oder Blitzschach passen auch bestens zum Zeitgeist, der es gerne etwas rascher mag als bei der ewigen Grübelei des klassischen Schaches. So lassen sich Wettkämpfe leichter dem Publikum präsentieren - und abseits eines Turnieres kann eine solche inzwischen millionenfach gesehene Sequenz entstehen wie jene, in der Carlsen in nur zwölf Sekunden Bedenkzeit Bill Gates matt setzt.
Auch rein sportlich ist Blitz- und Schnellschach bemerkenswerter als es seine Kritiker manchmal darstellen. Denn bei allen Fehlern, die Profis beklagen und die der Amateur im Gasthof zur Post im Regelfall natürlich gar nicht erkennt, ist das generelle Niveau unfassbar hoch. Schachspieler zeichnet eben nicht nur Kalkulation aus, sondern auch Intuition. Es erfordert auch eine gewisse Fähigkeit, sich wie nun in Berlin fünf- beziehungsweise zehnmal am Tag auf einen neuen Gegner und eine neue Partie einzulassen. Zudem können die Fähigkeiten im Blitzen auch in der Endphase einer normalen Partie von Nutzen sein.
So sind Blitz- und Schnellschach dabei, sich als eigene ernst zu nehmende Disziplinen zu etablieren - ähnlich wie in der Leichtathletik, wo ja auch 100-Meter-Sprinter, Mittelstreckler und Marathonläufer nebeneinander existieren. Noch sind die Überschneidungen im Favoritenfeld groß, aber es bilden sich durchaus Spezialisten heraus. Der Amerikaner Hikaru Nakamura gilt als absoluter Könner des Blitzschachs, er fehlt kurioserweise gerade in Berlin, weil er in Las Vegas bei einem besser dotierten Turnier antritt. Auch der Russe Jan Nepomnjaschtschi, im Schnellschach Turnier-Zweiter, ist in Partien mit wenig Bedenkzeit in der Relation stärker. Andererseits sind Top-10-Spieler der klassischen Variante wie Fabiano Caruana, Liren Ding oder Wesselin Topalov im Schnellschach tendenziell schwächer.
Nur Magnus Carlsen ist es völlig egal, ob eine Partie den halben Tag, eine halbe Stunde oder nur ein paar Minuten dauert. Er beherrscht alles bestens, er reiste als Dreifach-Weltmeister nach Berlin und will das auch bleiben. Auf die Titelverteidigung im Schnellschach soll nun auch die im Blitzschach folgen. Die WM im richtigen Schach steht für ihn erst nächstes Jahr an: Vorher muss erst einmal ein Achterfeld in einem Turnier den Gegner ermitteln.