Radsport:Uhrwerk in Orange

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Tom Dumoulin gewinnt als erster Niederländer den Giro d'Italia. Für sein deutsches Team ist es ebenfalls eine Premiere: der erste Gesamterfolg bei einer großen Rundfahrt.

Von Birgit Schönau, Rom

Tom Dumoulin mag wie ein Model wirken, baumlange 1,86 Meter groß, disziplinierte 69 Kilogramm leicht und dazu ein Gesicht wie aus einer amerikanischen TV-Serie. "Beautiful Tom" nennen sie ihn in Italien, wo Dumoulin am Sonntag als erster Niederländer überhaupt den Giro d'Italia gewonnen hat. Das klingt eher despektierlich als anerkennend und bei weitem nicht so bedrohlich wie die Alternative: "Clockwork Orange." Tatsächlich ist Dumoulin, 26, in den vergangenen drei Wochen die meiste Zeit wie ein Uhrwerk gefahren, bei den großen Bergtouren ebenso wie bei den Sprints im Flachland, seiner eigentlichen Spezialität. Das letzte Zeitfahren von Monza zum Ziel nach Mailand brachte ihm den Sieg vor dem Kolumbianer Nairo Quintana und dem Italiener Vincenzo Nibali, vor zwei sehr erfahrenen und renommierten Konkurrenten. Und doch erlebte Clockwork Orange einen Moment, bei dem alles aus dem Ruder lief und Dumoulin eine gute Minute Zeit, kurzfristig auch die Nerven verlor.

Es geschah bei der Königsetappe durch die Alpen am vergangenen Dienstag, als Dumoulin am Umbrailpass plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspürte. Er hielt an, riss sich das Rosa Trikot vom Leib, zog die Hose darunter aus und sprang nackt ins hohe Gras einer Bergwiese. "Eine Magen-Darm-Attacke", berichtete er später. Geblieben war ihm die Wut im Bauch, mit der er den Herrschaften Quintana und Nibali hinterherjagte, die nicht auf ihn gewartet hatten. Wobei Dumoulin später tapfer behauptete, dass er eine derartige Geste gar nicht erwartet hatte, bloß "weil die Natur mich gerufen hat". Richtig wütend wurde er erst in den Tagen darauf, als ihn Quintana und Nibali in den Bergen immer wieder attackierten, ihm das Trikot des Führenden abjagen wollten. "Die fahren gegen mich, anstatt für den Sieg" empörte sich der schöne Tom - und erntete prompt Hohngelächter. Was noch lauter wurde, als er nach den folgenden Etappen erneut die Rivalen anging. "Ich hätte dem fast gesagt: Dickerchen, ich habe schon zwei Mal den Giro gewonnen", entgegnete Nibali, nicht nur fast, sondern recht eindeutig. "Der kann nicht von uns verlangen, dass wir ihm die Verfolger vom Hals halten", sagte Nibali, "sonst können wir ihn gleich in der Kutsche nach Mailand fahren."

Für Dumoulins deutsches Team ist es der erste Gesamtsieg bei einer großen Rundfahrt

Dickerchen, Zoff beim Giro! Zu schön, um wahr zu sein, noch dazu mit dieser wunderbaren Rollenverteilung. Der starke, aber noch unbedarfte Holländer, dessen deutsches Team Sunweb auch noch nicht so richtig weiß, wo bei einer großen Länderrundfahrt der Hase lang läuft. So fuhr Dumoulin in Vollendung schön, aber über weite Strecken allein und oft unbeseelt von jeglicher taktischer Finesse. Seine beiden Widersacher verfügen sowohl über ergebene Teams als auch über strategisches Talent. Immer wieder versuchten Quintana, der derzeit beste Kletterspezialist der Welt, und Nibali bei seinem Heimspiel, den lästigen Holländer schachmatt zu setzen. "Ich hoffe, die kommen nicht aufs Podium", trompetete Dumoulin. "Der soll aufpassen, dass sich das Karma nicht gegen ihn wendet", stichelte Nibali. Quintana biss wie gewohnt lieber die Zähne zusammen, er ergatterte während der knüppelharten Schlusswoche sogar zeitweise das Rosa Trikot. Am Ende musste er sich im Zeitfahren ergeben. Und auf das Podium in Mailand stiegen alle drei.

Die Kabbeleien zwischen den Favoriten, das Auftauchen eines bis dato unbekannten Dritten, der das Duell zwischen Nibali und Quintana auflöste, als Außenseiter sogar gewann und seiner deutschen Auswahl den ersten Erfolg bei einer großen Rundfahrt bescherte - alles das machte die Jubiläumstour von Sardinien nach Mailand so bunt und spannend wie es lange keine Italienrundfahrt mehr war. Im Zeichen der Trauer um den kurz vor Start bei einem Verkehrsunfall gestorbenen Michele Scarponi, Giro-Sieger von 2011, hatte das Rennen begonnen. Die Fahrer protestierten erfolgreich gegen einen Abfahrt-Spezialpreis, tatsächlich gab es diesmal weniger Stürze als sonst. Die Doping-Suspendierungen beschränkten sich auf zwei italienische Wasserträger, die ausgeschlossen wurden, noch bevor es richtig losging. Und es ging dann wirklich gut los: Spektakuläre Etappen durch Italiens schönste Landschaften an der Küste, durch malerische alte Städte und schließlich durchs Gebirge, stets begleitet von tausenden enthusiastischen Fans.

Der 100. Giro war also durchaus einer, der Zuversicht vermittelt für die Renaissance des Radsports. Nibali und Quintana wollen ihr Glück nun bei der Tour de France im Juli versuchen. Dumoulin nimmt sich das für nächstes Jahr vor. Er hat Zeit. Das orangene Uhrwerk kann noch lange laufen.

© SZ vom 30.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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