Radsport:Gefühlte Titelverteidigung

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Den Sieg hatte sich John Degenkolb beim Frühjahrsklassiker Mailand - San Remo vorgenommen. Beim Erfolg des Polen Michail Kwiatkowski beendet er das Rennen als Siebter.

Von Max Ferstl, San Remo/München

Eigentlich lief es für John Degenkolb so, wie er es sich vorgenommen hatte: Problemlos hatte er den vorletzten Berg erklommen und anschließend in Position gebracht, weit weit vorne im Fahrerfeld. Nur noch der letzte Berg auf dem Weg von Mailand nach San Remo lag vor ihm: der Poggio, das letzte Hindernis, das die endschnellen Fahrer wie Degenkolb überwinden müssen, bevor sie auf der flachen Schlusspassage um den Sieg sprinten.

Lange sah es so aus, als würde Degenkolb auch diese berühmte Hürde meistern. Er sei gut in Schuss, hatte der 28-Jährige vor dem Rennen verkündet, "vielleicht sogar noch ein bisschen besser als 2015". Es war das Jahr, in dem sich Degenkolb in die Weltspitze der Klassikerfahrer geschoben hatte. Degenkolb hatte Mailand - San Remo, den ersten Klassiker der Saison, gewonnen und kurz darauf auch Paris-Roubaix.

Doch als am Samstagnachmittag der Slowake Peter Sagan kurz vor dem Gipfel des Poggio das Tempo hochschraubte, konnte Degenkolb nicht mehr mithalten. Das schafften nur Julian Alaphilippe und Michal Kwiatkowski. Letzterer so mühelos, dass er sich im Zielsprint an Favorit Sagan vorbeischieben konnte. "Ich hatte nicht die Beine, um bei der Attacke mitzugehen", gab Degenkolb zu. Er wurde Siebter. Die entscheidende Szene, in der Sagan davonzog, zeigt, dass es eben schon noch einen Unterschied gibt zwischen dem Degenkolb von 2015 und 2017.

Degenkolb kann noch nicht einmal die Gangschaltung bedienen

Was mit einem Vorfall zwischen den beiden Jahren zusammenhängt: Im Januar 2016 waren Degenkolb und mehrere Teamkollegen bei einer Trainingsfahrt im spanischen Calpe mit einer Autofahrerin kollidiert, die auf der falschen Straßenseite fuhr. Degenkolb brach sich den Unterarm und verlor beinahe die Kuppe des linken Zeigefingers. Er verpasste anschließend die Frühjahrsklassiker, bei denen er im Vorjahr die größten Erfolge seiner Karriere errungen hatte. Der Unfall kostete Degenkolb ein halbes Jahr seiner Karriere, den Zeigefinger seiner linken Hand kann er seither nur noch eingeschränkt bewegen. Es reicht noch nicht einmal, um die Gangschaltung zu bedienen.

Trotzdem gelang es Degenkolb, aus dem schlimmen Ereignis positive Erkenntnisse zu ziehen: "Der Unfall hat meine Herangehensweise verändert, er hat mir gezeigt, wie vergänglich alles ist, wie wichtig es ist, alles mit 100-prozentiger Professionalität zu machen." Degenkolb hat im vergangenen Jahr vieles verändert: Er wechselte das Team, übernahm bei Trek-Segafredo die Kapitänsrolle des zurückgetretenen Fabian Cancellara. Er beschäftigt außerdem einen eigenen Trainer, einen eigenen Mechaniker. Degenkolb möchte wieder dorthin, wo er schon einmal war.

Eigentlich liegen sie ihm ja, die Klassiker, diese schweren Eintagesrennen. Degenkolb verfügt über eine hohe Endschnelligkeit, kommt aber auch gut über die Berge. Besser zum Beispiel als der britische Topsprinter Mark Cavendish, der bei Mailand - San Remo schon auf dem vorletzten Anstieg nicht mehr mithielt. Degenkolb erzählt, dass sich das Rennen am Samstag wie eine "Titelverteidigung" angefühlt habe. Es hat ihm immerhin gezeigt, dass er seiner alten Form wieder nahe ist.

Degenkolb fuhr als Siebter über die Ziellinie, fünf Sekunden hinter Sieger Kwiatkowski und weit vor den übrigen Deutschen, Jasha Sütterlin als 63. oder Simon Geschke als 87. "Ich werde jetzt nicht in die Knie gehen oder mich unter der Bettdecke verstecken", sagte Degenkolb: "Ich werte das als guten Auftakt für die Klassiker." In zwei Wochen steht ja schon die Flandern-Rundfahrt an, am 9. April dann Paris-Roubaix. Es wird Degenkolbs nächste Titelverteidigung, zumindest eine gefühlte.

© SZ vom 19.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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