Radsport:Ein Igel schlägt die Hasen

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Zu früh losgelassen: Primoz Roglic (links) überholt den voreilig jubelnden Julian Alaphilippe, der später noch wegen unfairen Sprintens bestraft wird. (Foto: Olivier Matthys/AP)

Schlau und schnell: Tour-Verlierer Roglic gewinnt bei Lüttich-Bastogne-Lüttich seinen ersten Klassiker. Er profitiert davon, dass sich der Favorit Julian Alaphilippe zwei Fehler erlaubt.

Von Jean-Marie Magro, Lüttich/München

Julian Alaphilippe ist einer der spektakulärsten Fahrer im Radsportzirkus. Aber so ein Finale wie am vergangenen Wochenende bietet auch der Rock'n'Roller des Pelotons nicht in jedem Rennen: zwei Ausrutscher binnen sechs Sekunden. Sie hinderten Alaphilippe diesmal auf spektakuläre Weise am Triumph bei dem Rennen Lüttich-Bastogne-Lüttich, einem der fünf wichtigsten Eintagesklassiker des Radsports.

Erst vor einer Woche hat Alaphilippe den wohl größten Erfolg seiner Karriere eingefahren, rund um die Rennstrecke in Imola/Italien. Am letzten steilen Hügel setzte er sich ab und ward von seinen Konkurrenten nicht mehr gesehen. Der 28-Jährige wurde Weltmeister und darf von nun an im Regenbogentrikot seine Rennen bestreiten. Schnell werden in Frankreich Vergleiche zu Bernard Hinault gezogen, der 1980 sowohl Weltmeister wurde als auch im Schneetreiben die "Doyenne" gewann, wie der Ardennenklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich getauft wurde. Doch wenn es einem zuzutrauen war, diese monumentalen Vergleiche und Erwartungen zu erfüllen, dann wohl Alaphilippe, da war sich die Fachwelt einig.

Also probierte es "Loulou", wie er von seinen Landsleuten genannt wird, in gewohnter Manier. Wie schon eine Woche zuvor setzte er nach rund 250 Kilometern am letzten Anstieg, der Roche-aux-Faucon, dem Falkenfelsen, eine wuchtige Attacke. Doch dieses Mal wehrte sich die Konkurrenz, vor allem in Gestalt des Schweizers Marc Hirschi, 22, der schnell ans Hinterrad des Franzosen sprang. Nachdem sich die beiden Favoriten beäugt hatten, fanden auch die Slowenen Tadej Pogacar und Primoz Roglic noch ihren Weg in die Spitzengruppe. Jene beiden Fahrer, die zuletzt die Tour de France dominiert hatten.

Was nun folgte, war ein Wettrennen zwischen mehreren Hasen und einem Igel. Alaphilippe und Hirschi, die beiden vielleicht besten Puncher des Pelotons dank ihrer explosiven Antritte, suchten in einer Gegensteigung die Entscheidung. Aber schon wieder neutralisierten sie sich: Keiner konnte sich absetzen, keiner der beiden mochte die Führungsarbeit leisten - und von hinten rollten die weniger explosiven Slowenen heran. Auf der Abfahrt in die Stadt Lüttich kooperierten die vier Fahrer an der Spitze dann wieder, bis es auf den letzten flachen Kilometer ging - und damit wieder ans Belauern. Währenddessen rollte der im Grunde schon abgehängte Matej Mohoric heran, der dritte Slowene - und dann passierten sie, Alaphilippes zwei Ausrutscher innerhalb von sechs Sekunden.

Erst lenkte der Franzose, nun wieder in Führung liegend, bei höchster Geschwindigkeit seine Maschine in einem schnellen Zug nach links, verließ dabei seine Fahrbahn und verursachte so fast einen Sturz auf der Zielgeraden. Hirschi, der gerade an Alaphilippe vorbeiziehen wollte, wahrte gerade so das Gleichgewicht und trudelte etwas bedröppelt auf Platz drei ein. Auch Pogacar und Mohoric brachen ihren Sprint ab, sichtlich frustriert.

Und schließlich: Weil Alaphilippe um sich herum niemanden wahrnahm, hob der Franzose rund zehn Meter vor der Ziellinie die Arme, um seinen Sieg zu bejubeln. Da überholte ihn dann aber auf den letzten Zentimetern der Tour-Zweite Roglic, der als einziger auf Alaphilippes rechter Seite zum Sprint angesetzt hatte und nicht von dessen Schlenker betroffen war. Ausgerechnet Roglic, der noch vor zwei Wochen im finalen, brutalen Bergzeitfahren den sicher geglaubten Tour-Sieg an Pogacar hatte abtreten müssen, der in dieser Spitzengruppe nun wohl der am wenigsten explosive Mann auf einer Schlussgeraden war und nun davon profitierte, dass sich die Favoriten Hirschi und Alaphilippe zu sehr belauert hatten. Igel schlägt Hasen.

Alaphilippe wurde nach dem Rennen wegen seines Manövers noch auf den letzten Platz der Spitzengruppe strafversetzt, also auf den fünften Rang. Er bat später um Entschuldigung und versicherte, sein Schlenker sei keine Absicht gewesen. Zu seinem frühen Jubel sagte der Weltmeister, dass ihm dieser Fehler zum ersten und zum letzten Mal passiert sei. Und Roglic? Der sonnte sich spürbar in seiner Genugtuung nach der schweren Tour-Niederlage: "Es war auf meiner Wunschliste, so ein Monument zu gewinnen", sagte er, "ich bin superglücklich und stolz."

Alaphilippe erhält indes im nächsten Frühjahr vielleicht noch eine Chance, den Ardennenklassiker im Regenbogentrikot zu gewinnen. Und zwar, falls Lüttich-Bastogne-Lüttich dann wieder wie gewohnt vor der Straßenrad-WM stattfindet und nicht danach, wie es die Pandemie in diesem Jahr bedingt hatte. Einen derartigen Coup hätte nicht einmal Bernard Hinault geschafft.

© SZ vom 06.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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