Radsport:Anführer mit Helfersyndrom

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Profi-Radfahrer Dominik Nerz, 25, tritt bei der Tour de France als Kapitän an.

Von Christian Bernhard

Dominik Nerz weiß, wie man sich als Helfer in einem Profi-Radsport-Team fühlt. 2012, bei seiner ersten Teilnahme an der Tour de France, war er im italienischen Team Liquigas als Edelhelfer von Kapitän Vincenzo Nibali im Einsatz - besonders am Berg. Mehrere Male stürzte er dabei, "ein Loch in der Hüfte" war nach seinen Aussagen die Folge. Er sei körperlich am Ende, könne nachts nicht richtig schlafen und habe große Schmerzen, erzählte er damals: "Ich stehe morgens auf und fühle mich, als hätte mich ein Bus überfahren." Aufgeben kam für den Allgäuer aber nicht in Frage. Das Team brauche ihn, betonte er, "ich habe Aufgaben".

Ein bisschen trägt er das "Helfersyndrom" auch heute noch in sich. Wenn die Trinkflaschen leer sind, stelle sich bei ihm ein "Automatismus" ein, der ihn nach hinten fallen und "für alle" Nachschub besorgen lasse, erzählt er. Dabei hat er das inzwischen nicht mehr nötig. Nerz, 25, ist jetzt selbst Kapitän - beim deutschen Bora-Argon 18-Team.

Bei der Bayern-Rundfahrt schlüpft Nerz derzeit aber noch einmal in seine alte Rolle. Er habe die "volle Helferrolle" eingenommen, sagte er nach der ersten Etappe, "weil ich mich hier noch einmal richtig belasten möchte". Seine Mannschaft hatte einen perfekten Start in die 36. Bayern-Rundfahrt, Sprinter Sam Bennett verwies auf der Auftakt-Etappe von Regenburg nach Waldsassen die höher eingeschätzten Nacer Bouhanni und John Degenkolb auf die Plätze. Am Donnerstag fuhr Bennett bei der zweiten Massensprintankunft auf Rang vier, den Tagessieg nach 180 Kilometern holte sich in Selb Degenkolb.

Nerz' großes Saisonziel ist die Tour de France, die er Anfang Juli erstmals als Kapitän bestreiten soll. "Ich habe mich sehr, sehr gut gefühlt", sagte er in Waldsassen, wo die Auftaktetappe am Mittwoch zu Ende gegangen war. Er sei "zufrieden und glücklich". Das ist nicht selbstverständlich. Eine schwere Erkältung sowie ein Infekt behinderten ihn zu Saisonbeginn massiv, Nerz bezeichnet das Frühjahr als "suboptimal". Als er wieder fit war, wollte er zu schnell zu viel, "was mich dann noch einmal etwas zurückgeschmissen hat". Sein Teamchef Ralph Denk ist aufgrund der Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr trotzdem entspannt. Eine "vordere Platzierung" in der Gesamtwertung der Tour de France sei "nichtsdestotrotz unser Ziel", betont Denk, Nerz ist der Ansicht, dass ein Top-Ten-Platz "auch im jetzigen Zustand" möglich sein kann. Er lasse sich von der Situation "nicht so sehr" aus der Ruhe bringen, da es 2014 mit dem damaligen Kapitän Leopold König ähnliche Probleme gab. Auch König war alles andere als ideal vorbereitet in die Frankreich-Rundfahrt gegangen - fuhr aber auf Rang sieben im Gesamt-Klassement. Ihm sei wichtig, dass Nerz "jetzt fit ist, sodass wir gut Richtung Tour de France arbeiten können", sagt Denk. Aktuell laufe alles nach Plan.

Bei der Bayern-Rundfahrt arbeitet er für Sprinter Sam Bennett

Der Teamchef hält sehr viel vom 25-Jährigen. Er bezeichnet ihn als "besten deutschen Rundfahrer" mit "einzigartigen" körperlichen Fähigkeiten und einem "starken" Kopf. Der 41-Jährige glaubt, dass es für Nerz bei den großen Rundfahrten "Richtung Podium" gehen könne, er sieht in ihm den Mann, der die letzte verbliebene Lücke im deutschen Radsport schließen kann. Mit Marcel Kittel hat Deutschland derzeit einen Weltklasse-Sprinter, John Degenkolb ist einer der besten Klassiker-Fahrer, und Tony Martin gehört zur Crème de la Crème im Einzelzeitfahren. Nur bei den Rundfahrern der neuen deutschen Generation gibt es noch keinen, der so richtig durchgestartet ist. Nerz könnte das werden, muss sich dafür aber erst einmal seine neue Rolle einverleiben. Das Kapitäns-Amt sei eine "große Umstellung", sagt Nerz, der vor der Saison nach vier Jahren bei den Teams Liquigas und BMC wieder zu einer deutschen Equipe zurückgekehrt war. Er müsse nun auf viele kleine Dinge achten, "die vorher nicht so wichtig waren" und natürlich lernen, "die Kapitäns-Rolle auszufüllen".

Dabei dürften ihm seine Auftritte an der Seite von Nibali zugute kommen. Nerz steht mit dem Italiener weiter regelmäßig in Kontakt und hat damit einen der besten Lehrmeister, den er sich dieser Tage vorstellen kann. Nerz bezeichnet den amtierenden Tour-Sieger als sein "größtes Vorbild. Wenn ich nur im Ansatz so ein Kapitän werde, wie er es ist, kann ich schon sehr zufrieden sein."

© SZ vom 15.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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