Portugal:Das Trauma der Träumer

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2004 stand Portugal zuletzt im EM-Finale. Ronaldo will seine Tränen von einst vergessen.

Von Ulrich Hartmann, Lyon

Dem Fußballer Cristiano Ronaldo mangelt es nicht an finanziellen Mitteln. Sein Brutto-Einkommen wird auf knapp 70 Millionen Euro im Jahr geschätzt, Werbeverträge inklusive. Ronaldo ist hinter dem Argentinier Lionel Messi der am zweitbesten bezahlte Fußballer der Welt. Er kann sich alles leisten, bloß einen Titel wie den des Europameisters kann er sich mit Geld nicht kaufen. Es sind solche Ziele, die den Portugiesen umtreiben, Dinge, die mit Geld nicht zu bekommen sind. Momentan wünscht sich Ronaldo nichts sehnlicher, als mit Portugal am Sonntag das EM-Endspiel in Saint-Denis zu gewinnen. "Das ist mein Traum", sagt der 31-Jährige mit dem Wochenverdienst von 1,3 Millionen Euro, und: "Träumen kostet nichts."

Es ist zwölf Jahre und vier Tage her, dass Ronaldo nicht mit unglaublichen Summen und Titeln, sondern mit seinen Tränen berühmt geworden ist. Er war 19 Jahre alt und hatte mit Portugal 2004 das EM-Endspiel in Lissabon gegen Griechenland verloren. Nach dem Spiel ist er als verheulter Fußballer, der sich vom damaligen Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari nicht trösten lassen konnte, zigfach fotografiert worden. Obwohl damals nur Experten ahnten, dass aus diesem Jungen einer der bedeutendsten Fußballer werden sollte, war Ronaldo mit seinen Tränen das prägende Gesicht dieser portugiesischen Niederlage.

Cristiano steigt nach einer Ecke am höchsten - und köpft das 1:0 für Portugal gegen Wales. (Foto: Georgi Licovski/dpa)

"Ich war 19, es war mein erstes Finale, es ist zwölf Jahre her", sagte Ronaldo am Mittwochabend im Stade de Lyon. Diese zwölf Jahre haben seine und die Welt des Fußballs verändert. Ronaldo ist seither drei Mal zum Weltfußballer gewählt worden und hat mit Manchester United und Real Madrid drei Mal die Champions League gewonnen. Aber eine Sache ist ihm in all den Jahren nicht gelungen, und dieser Kreis könnte sich erst jetzt schließen, zwölf Jahre später, wenn er am Sonntag mit Portugal im EM-Finale steht. Er kann die Nacht von Lissabon vergessen machen, erstmals mit der portugiesischen Nationalmannschaft einen Titel gewinnen und seinen vielen Triumphen einen hinzufügen, der auch seinen Heimatgefühlen schmeicheln würde. "Hoffentlich seht ihr mich am Sonntag Tränen der Freude weinen", sagt Ronaldo. Sollte jedoch auch dieses Finale verloren gehen, dann bekäme die Karriere eines der erfolgreichsten Spielers des Weltfußballs eine Narbe. Ronaldo hat viel zu gewinnen - aber auch einiges zu verlieren.

2008 sind Ronaldo und Portugal im Viertelfinale an Deutschland gescheitert (2:3), 2012 im Halbfinale an Spanien (2:4 im Elfmeterschießen). Ronaldo hat bei beiden Turnieren Tore erzielt, sodass er nun nach Frankreich gefahren war mit der Aussicht, als erster Fußballer bei vier EM-Turnieren nacheinander Tore geschossen zu haben und mit nur drei weiteren Treffern den EM-Torrekord des Franzosen Michel Platini einzustellen. Platini hat bei der EM 1984 neun Tore geschossen, Ronaldo benötigte für dieselbe Anzahl zwar vier Turniere in 16 Jahren, aber am Mittwochabend in Lyon, als Portugal im Halbfinale mit 2:0 gegen Wales gewann, hat er zur 1:0-Führung sein neuntes EM-Tor erzielt. Es war ein typisches, wunderbares Ronaldo-Kopfballtor. In der 50. Minute stieg er zu einer Flanke des Neu-Dortmunders Raphael Guerrero im Strafraum extrem hoch (die Messungen schwankten zwischen 2,53 Metern und 2,62 Metern) und schien in der Luft zu stehen, es sah für den Bruchteil einer Sekunde so aus, als habe jemand das Bild in die Superzeitlupe geschaltet. Dann drückte Ronaldo den Ball mit der Stirn ins Tor und feierte sich anschließend ausgiebig, denn am meisten freut sich über Ronaldo-Tore immer noch Ronaldo selbst.

Neun EM-Tore, genauso viele wie Platini - was ihm dieser Rekord bedeute, ist er hinterher gefragt worden. Bei solchen Fragen schaltet Ronaldo routiniert in den Understatement-Modus. "Rekorde zu brechen ist schön", sagte er so beiläufig wie möglich, "ich habe schon viele aufgestellt, sie kommen automatisch mit der Zeit." Auch EM-Rekordspieler ist er mit 20 Partien vor Bastian Schweinsteiger (18) und dem Italiener Gianluigi Buffon (17). Aber nicht er, sondern die Mannschaft solle im Mittelpunkt stehen. "Ich will nur helfen, so gut ich kann", sagte Ronaldo im Tonfall eines selbstlosen Entwicklungshelfers. Dabei bedeutet wohl niemandem in der Mannschaft dieser Titel mehr als dem Titelsammler von Real, denn außer ihm und Ricardo Carvalho war von den aktuellen Spielern 2004 noch niemand dabei.

Auch der Trainer Fernando Santos nicht. Er kommentierte an jenem 4. Juli 2004 das Finale fürs Radio, zuvor hat er zwei Jahre als Trainer in Athen gearbeitet und hinterher noch mal zwei in Athen und drei in Thessaloniki. "Ich danke allen Portugiesen und meinen griechischen Freunden", sagte Santos am Mittwoch, als habe er soeben den Oscar bekommen. Der griechische Fußball spielte in der portugiesischen Freude eine gewisse Rolle, aber das war allein der Vita des Trainers geschuldet. Denn mit Griechenland hat der Versuch, am Sonntag ein portugiesisches Trauma zu bewältigen, nur noch wenig zu tun.

Cristiano Ronaldo, damals 19, nach dem verlorenen EM-Finale 2004 gegen Griechenland in seiner Heimat Portugal mit Nationaltrainer Scolari (r.). (Foto: Vincenzo Pinto/AFP)

Ronaldo wähnt seine Mannschaft seit Mittwoch auf dem notwendigen Niveau, um es im Finale auch mit dem vermutlich stärksten Kontrahenten aufzunehmen. "Wir haben das Turnier vielleicht nicht so gut angefangen, aber jetzt sind wir stark und können unseren Traum wahr werden lassen", schwelgte er: "Wir sind an der Reihe, Portugal hat diesen Titel verdient."

CR7 mag da emotional und patriotisch voreingenommen sein, aber er erhielt offene Unterstützung vom walisischen Coach Chris Coleman. "Portugal hat gut verteidigt, sie haben ein gutes System, einen guten Plan und ein gutes Team", sagte Coleman, "sie wurden viel kritisiert, aber ich hoffe, sie gewinnen das Finale." So wohlwollend hat bei dieser EM noch niemand über die Portugiesen gesprochen, die beim 1:0 nach Verlängerung gegen Kroatien im Achtelfinale am wohl langweiligsten Spiel des Turniers teilnahmen. Coleman fand Portugal am Mittwoch aber richtig gut. Und er nannte einen weiteren Grund, warum diese Mannschaft reif ist für den Titel. "Der Siebener ist nicht schlecht", sagte er augenzwinkernd.

© SZ vom 08.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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