Paris St.-Germain:1. FSV Paris 05

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Nach neun Jahren Anlauf erreicht PSG das Finale. Spieler und Fans tanzen nach dem Zwischentriumph Samba, Thomas Tuchel sieht den Schlüssel zum Erfolg im neuen Kollektivgeist seines Starensembles: "Es fühlt sich an, als würdest du einen Underdog trainieren."

Von Oliver Meiler

Wenn nach großen Siegen die Historie herhalten muss für die Verortung der Gefühle, dann stellt sich im Fußball immer die Frage: Was zum Teufel lief denn bisher immer schief?

"Geschichte im Lauf" titelt Le Parisien am Tag nach dem recht leicht erspielten 3:0 von PSG über RB Leipzig, und es liest sich, als wäre dieser Lauf jetzt unaufhaltsam, schiere Fatalität: Finale in der Champions League - musste ja mal passieren, sollte eigentlich schon lange passiert sein.

Neun Jahre ist es her, da umrissen die neuen katarischen Besitzer von Paris Saint-Germain ein Zeitfenster für die Eroberung Europas: Fünf Jahre, hieß es, höchstens fünf Jahre, dann werde man die Königsklasse gewonnen haben. Damit die Stadt des Lichts noch etwas mehr strahle - und der Ölstaat am Golf gleich mit. Aber Geschichte ist nun mal dehnbar, ihr Lauf ist selten gerade. Geld allein reicht nicht, um ihn gerade zu machen. Neun Jahre.

Wenn es dann endlich passt, auch darin ist der Mensch ein erstaunliches Wesen, verblassen alle Enttäuschungen. Sie sind einfach weg. Wie oft war PSG in den vergangenen Jahren an sich selbst gescheitert, am mangelnden Widerstand gegen den Druck der Erwartungen? Daran, dass im entscheidenden Moment der Elf aus Stars und Sternchen immer die Seele fehlte? Diesmal nicht, diesmal dominierte Paris in jeder Hinsicht, auch in Willenskraft.

Zwei Vorlagen, ein Tor: Di María wird zum Matchwinner - und auch das Pariser Mittelfeld glänzt

Auf den Champs-Élysées feierten sie so ausgelassen, mit Autokorso und Herzlichkeiten, ohne Abstandswahrung und Masken, dass die CRS, die bei Großanlässen und politischen Demonstrationen ausrückt, eingreifen musste. In den Bars an der Avenue ließ die Polizei da und dort die Großbildschirme ausschalten, weil sich die Besucher nicht an die Anti-Corona-Vorschriften hielten. Man schaute dann auf den kleinen Bildschirmen der Handys weiter, alle eng an eng, wie der Sender BFM TV es zeigte - was daran wohl besser war?

Der Platz vor dem Parc des Princes, dem Stadion von PSG, füllte sich kurz nach Spielende, aus allen Seitenstraßen strömten Fans herbei, mit Petarden, Pyros und Feuerwerk. Einen öffentlichen Aufruf der Ultras zu dieser Feier hatte es nicht gegeben, das wäre ja Selbstsabotage der Veranstalter gewesen, und der Prinzenpark wäre von den CRS wohl großräumig abgesperrt worden. Aber bei aller verständlichen Euphorie: Wie viel ist der sportliche Zwischentriumph wert, während zugleich ein Wettrennen gegen das heimtückische Virus läuft? In Frankreich registrieren sie gerade eine neue Welle von Ansteckungen.

"On est en finale, on est en finale!" Wir sind im Finale! In diesen Chor stimmten alle ein, auch die Spieler von PSG in Lissabon. Zunächst versammelten sie sich auf dem Rasen und sangen im Kreis. Im französischen Fernsehen gab es zudem Bilder, die das Team bei der Rückkehr ins Hotel zeigten - hübsche Bilder von einer Mannschaft mit ihrem Leader mittendrin, dem Brasilianer Neymar Junior, der eine große Lautsprecherbox in den Armen trägt. Wie eine Gang von Freunden in den Sommerferien sah das aus: Samba, gar kein Fado.

Vielleicht liegt in diesen Bildern die Erklärung für den späten Erfolg: Nie zuvor in der katarischen Ära von PSG erschien das teuer zusammengekaufte Ensemble geeinter, nie spielte es kollektivistischer, solidarischer und gieriger Fußball. "Gewinnen können wir nur alle gemeinsam", sagte Kylian Mbappé, der nach seiner Verletzung einen eher durchschnittlichen Abend erlebt hatte, "zwei reichen nicht", betonte er. Der Jungstar meinte: ich und Neymar. Man sah das schon im Viertelfinale gegen Atalanta Bergamo (2:1), das ja beinahe verloren gegangen wäre: Am Biss fehlte es nicht, an dieser Gemeinmachung mit der Sache. Irgendwann fielen die Mauern.

Es überraschte auch nicht, dass im Halbfinale einer alle überragte, den man in Paris zuweilen als schnöseligen Frühpensionär wahrnahm: Ángel Di María gab den Ergänzungsspieler im Offensivtrio, PSG spielte 4-3-3. Der dünne Mann aus Rosario, der die Champions League schon mit Real gewann, machte ein großes Spiel und wurde zum "Man of the match" gewählt: zwei Vorlagen, ein Tor. Alles mit links, notfalls mit akrobatischen Verrenkungen; den rechten Fuß braucht Di María nur zum Laufen.

Neymar traf wieder nicht, was Trainer Thomas Tuchel die Frage bescherte, was denn da los sei? "Ich selbst habe in meiner ganzen Karriere nur zwei Tore erzielt", sagte Tuchel gelöst, "ich werde mich hüten, Neymar da Ratschläge zu geben."

Im Sky-Interview gab sich der deutsche Coach launig, der Druck zu reüssieren, er war wohl für Tuchel noch nie größer gewesen: "Es ist jetzt schwer, die Freude und Erleichterung zu zeigen. Ich bin k.o.", sagte er. Den neuen Kollektivgeist sieht auch er als Schlüssel, und Tuchel glaubt zu wissen, wie der zuletzt noch wuchs: Die Zugänge der Saison, Keylor Navas, Ander Herrera und Pablo Sarabia, seien alles Leute mit Titelerfahrung, sie hätten "noch mal Klebstoff" dazugegeben. Trotz der großen Spieler, so Tuchel, habe sein Team die Mentalität einer kleinen Mannschaft: "Das ist bemerkenswert", sagte der frühere Coach des 1. FSV Mainz 05: "Es fühlt sich so an, als würdest du einen Underdog trainieren."

Auch das oft gescholtene PSG-Mittelfeld war auf Niveau, kompakt und zuweilen kreativ. Gegen Atalanta hatte Neymar fast alle Bälle im Rückraum holen müssen, nun sorgten der umfunktionierte Verteidiger Marquinhos und Leandro Paredes dafür, dass die Schalte von Abwehr auf Angriff auch ohne den Rückfallstürmer funktionierte. Auch Ander Herrera überzeugte, und am Ende kam noch Marco Verratti zu einem Kurzeinsatz, der eigentliche Umschalter des Pariser Spiels, seit Jahren. Neulich hatte er sich im Training eine Wadenverletzung zugezogen. Im Finale könnte er wieder dabei sein, wie auch Torwart Navas.

Für PSG ist das Endspiel eine Premiere, genau zum 50. Geburtstag des Vereins. Bisher schafften es schon vier andere französische Klubs ins Finale der Königsklasse: Stade Reims und Marseille je zweimal, Monaco und Saint-Étienne je einmal. Nur die Marseillais gewannen den Pott: 1993, 1:0 gegen Milan, Tor von Basile Boli, lange her.

Die Zeitung L'Équipe erinnerte nun daran, dass sie es war, die den Pokal mit den großen Ohren einst erfunden und entworfen hatte. Als 1956 der damalige Chefredakteur des Blattes, Jacques Goddet, die erste Ausgabe des großen Potts an Santiago Bernabéu übergab, den Präsidenten von Real Madrid, das gerade Stade Reims geschlagen hatte, sagte er: "Hegen und pflegen Sie ihn. Er ist das Kind der Liebe."

Ein bisschen mehr Liebe wünscht man sich ja schon beim chronisch ungeliebten PSG - für sich und für das, was man für das Renommee des französischen Fußballs zu tun glaubt. Damit der Stolz das Land wenigstens ein bisschen erfasst, erhofft man sich ein großes Finale, gegen einen großen Gegner: Bayern. Für den schönsten Tag im Leben wünsche man sich schon etwas Spezielles: "Ginge es gegen Lyon, wäre das wie ein Tag im Büro", kommentierte L'Équipe, ohne Rücksicht auf mögliches Unbehagen heimischer Leser. "Paris steht vor den Toren des Paradieses", schrieb Le Parisien, wie immer nie verlegen um superlative Emphase, wenn es um Paris geht. "Depuis toujours" warte man auf diesen Tag, seit immer. Auch die Ewigkeit ist dehnbar.

© SZ vom 20.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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