Para-Reitsport:Brunos Vollbremsung

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Ganz viel Lust - und etwas Übermut: Julia Porzelt und ihr Wallach Bruno zeigen in Riem ihr Potential. (Foto: Claus Schunk)

Die bayerische Para-Dressurmeisterin Julia Porzelt erlebt bei der Pferd International die emotionale Bandbreite des Dressurreitens. Der deutsche Kader präsentiert sich derweil in guter Frühform für Tokio.

Von Johannes Müller, München

"Have a good time, good time", dröhnte es aus den Lautsprechern. Freddie Mercury sang, Brian May, der Gitarrist von Queen, setzte zu seinem berühmten Gitarrensolo an, als Bruno plötzlich und voller Übermut in den Galopp verfiel. Das ist in der Para-Dressurklasse, in der Julia Porzelt reitet, verboten, aus Sicherheitsgründen. Porzelt zog die Zügel auf Vollbremse und wäre durch die Turbulenzen fast aus dem Sattel ihres Wallachs geflogen. Ein Augenblick, in dem allen Beobachtern der Schreck in die Glieder fuhr.

Als Porzelt kurz darauf neben dem Abreiteplatz saß, war ihr Lächeln Ausdruck von Freude, aber auch Erleichterung. Freude, weil sie und ihr Pferd eine Good-time hatten, bis Bruno der Gaul durchging. Und Erleichterung, dass sie sich beim Bremsen nur eine leichte Verletzung an der Hand zugezogen hatte. Damit passte der letzte Auftritt der Para-Dressurreiterin bei der Pferd International in die Dramaturgie eines Wochenendes, in dem Porzelt, 25, die emotionale Bandbreite ihres Sports erlebte. Auf einen gelungenen Auftritt am ersten Turniertag folgte eine enttäuschende Prüfung am zweiten Tag, ehe der Wettkampf mit jenem abrupten Manöver, aber einem trotzdem bemerkenswerten Ritt zu Ende ging.

Auf internationaler Ebene sind die Paralympics 2024 in Paris Porzelts Ziel

Julia Porzelt, die in Prien im Chiemgau zu Hause ist, ist von ihrer Geburt an körperlich behindert. Ihre fehlen Knie, Unterschenkel und Füße. Im Alltag läuft sie deshalb mit Beinprothesen, auf die sie beim Reiten verzichtet. Ein Spezialsattel bringt den sicheren Halt; an den Zügeln sind Schlaufen angebracht, die einen stabilen Griff ermöglichen. Bei Geburt fehlten Porzelt zudem die Finger, jeweils drei an beiden Händen wurden später operativ gestaltet. Ersten Kontakt zu Pferden hatte sie beim therapeutischen Reiten. 2016 wurde Porzelt deutsche Jugendmeisterin, im Erwachsenenbereich ist sie aktuelle bayerische Meisterin im Grade II - in dieser Klasse treten die Athleten mit den zweitstärksten Behinderungen an. Im vergangenen Jahr hat Porzelt nebenbei noch als 100-Meter-Läuferin begonnen, ursprünglich nur als Ausgleich, wie sie sagt: "Inzwischen ist daraus eine zweite Leidenschaft geworden."

Auf internationaler Ebene steht Porzelt am Anfang ihrer Entwicklung. Erst vor zwei Jahren debütierte sie mit ihrem neunjährigen Wallach Bruno; Pferd und Reiterin bauten nur langsam ein Vertrauensverhältnis auf. "Bruno hatte lange Zeit Angst und komische Sachen gemacht. Das haben wir aber mittlerweile ganz gut im Griff", erzählt Porzelt: "Ich glaube, dass wir das Potenzial für mehr haben." So sieht es auch Bendix Eichholz, der Porzelt seit September trainiert: "Es ist auf jeden Fall noch Luft nach oben. Aber Julia hat, insbesondere was ihre Reittechnik angeht, eine gute Entwicklung gemacht."

Ihr Auftritt am ersten Turniertag in Riem spiegelte das wider. Porzelt und Bruno zeigten eine harmonische Prüfung, die mit 67.879 Prozentpunkten belohnt wurde. Umso größer war die Enttäuschung tags darauf, als Pferd und Reiterin keine Einheit bildeten und Bruno sich einiger Hilfen verweigerte. Am Ende der Championatsprüfung standen 64.706 Prozentpunkte. Frustriert gab Porzelt zu, dass sie "keine Chance" gehabt habe, ihr Pferd zu lenken. Das sollte am Pfingstmontag in der Kür ganz anders sein: "Heute hatte ich Bruno voll auf meiner Seite, er hatte ganz viel Lust zu reiten." Etwas zu viel Lust - was zur Vollbremsung führte. Dennoch war Julia Porzelts Pfingstfazit positiv: "Ich bin sehr zufrieden." Bis zum Malheur hatte das Paar Kurs auf die 70 Prozentpunkte gehalten.

Der deutsche Kader präsentiert eine gute Paralympics-Frühform

Zum erst zweiten Mal nach 2019 gingen die Para-Dressurreiter bei der Pferd International in München-Riem an den Start. Das Olympiagelände durfte nur betreten, wer am Eingang negativ auf Corona getestet wurde. Zuschauer waren nicht zugelassen. Trotzdem betonte Bundestrainer Bernhard Fliegl, wie froh er sei, sein Para-Team in Riem in Augenschein nehmen zu können.

Im Hinblick auf den Saisonhöhepunkt, die Paralympics in Tokio, präsentierten sich die deutschen Kaderathleten in guter Frühform. "Wir konnten uns zuletzt sukzessive steigern", sagte Fliegl: "Über Waregem, Mannheim und jetzt München haben wir gesehen, wie die Prozente immer höher gehen." Die Leistungen der Tokio-Kandidaten Elke Philipp (Grad I), Heidemarie Dresing (Grade II) , Steffen Zeibig (Grade III) oder Regine Mispelkamp (Grade V) gaben Zuversicht. Sie erreichten bei mindestens einer Prüfung ein Ergebnis von mehr als 76 Prozentpunkten. Dennoch mahnte der Bundestrainer: "Die Konkurrenz schläft nicht" - besonders nicht in England und den Niederlanden.

Für Julia Porzelt sind die Paralympics "dieses Jahr nicht erreichbar", wie sie realistisch einschätzt: "Aber vielleicht bin ich bei den nächsten in drei Jahren dabei. Das wäre ein Ziel, das man sich setzen könnte." Jetzt aber will sie die Zeit nutzen, um mit Bruno noch feiner zu harmonieren. "Ich will in allem nochmal besser werden, um dann im nächsten Jahr mehr zeigen zu können", sagt Porzelt. Ein Ziel steht bereits: die Pferd International in München-Riem.

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