Olympisches Fußballturnier:Raus aus der Depression

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Ja, hallo, hab' gerade meine Bronze-Medaille bekommen: Ronaldinho (mit Handy) hat bei Olympia 2008 in Peking Wichtiges zu kommunizieren. (Foto: Stu Forster/Getty Images)

Brasiliens olympische Fußballgeschichte ist geprägt von peinlichen Auftritten und schmachvollen Niederlagen. Mit Stürmer Neymar will die Seleção in Rio Gold gewinnen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

In der Karriere des ehemaligen Weltfußballers Ronaldinho haben sich viele hübsche Fotos angesammelt, eines der hübschesten zeigt ihn mit einem Strauß roter Rosen in der linken Hand und einem Handy am rechten Ohr. Das Gespräch scheint höchst unterhaltsam zu sein, Ronaldinho lacht, wie nur er lachen kann. Seine beeindruckende Vorderzahnreihe sticht ins Auge. Um seinen Hals baumelt übrigens die olympische Bronzemedaille. Das Foto ist bei der Medaillenzeremonie 2008 in Peking entstanden. Es ist eine Demonstration der Gleichgültigkeit: Was um Himmels Willen soll ein brasilianischer Fußballheld mit Bronze anfangen?

Die Szene ist in Brasilien unvergessen. Allerdings tut man dem häufig gescholtenen Spaßvogel Ronaldinho unrecht, wenn man ihn zum Paradebeispiel olympischer Respektlosigkeit erklärt. Als sich Brasilien 1996 in Atlanta mit Bronze begnügen musste - nach einer Halbfinalniederlage gegen Nigeria - schwänzte das gesamte Team die Medaillenvergabe. Damals waren unter anderem die amtierenden Weltmeister Aldair und Bebeto dabei sowie die späteren Weltmeister Rivaldo und Ronaldo.

Brasiliens olympische Fußballgeschichte ist geprägt von peinlichen Auftritten und schmachvollen Niederlagen. Lange Zeit bestand allerdings kein Anlass, sich dafür zu schämen. Ihren Stolz zog die Fußballnation traditionell aus den Auftritten bei der wesentlich bedeutenderen Konkurrenzveranstaltung der Fifa. Klar, der Rekordweltmeister hat noch nie olympisches Gold gewonnen, aber der kleine Schandfleck wurde stets Ronaldinho-haft weggelächelt. In diesem Jahr ist alles anders.

Das hängt keineswegs nur daran, dass die Spiele diesmal in Rio stattfinden. Brasiliens Olympiaverband hat sich vorgenommen, erstmals in die Top-Ten des Medaillenspiegels vorzudringen. Das wird schwer genug. Zumal brasilianische Sportler derzeit in kaum einer Disziplin die absolute Weltspitze repräsentieren - vielleicht mal abgesehen von den Beachvolleyballern und der Stabhochspringerin Fabiana Murer. Für die breite Masse der Brasilianer steht aber ohnehin eine einzige Plakette im Vordergrund: Gold im Männerfußball.

"Organisiertes Chaos" heißt das Konzept von Brasiliens Olympia-Trainer Rogério Micale

Getrieben wird diese Sehnsucht von dem dummen Gefühl, dass Brasilien nicht nur politisch und wirtschaftlich in seiner schwersten Krise seit Jahrzehnten steckt, sondern vor allem auch fußballerisch. Dem mitleiderregenden Gebaren bei der WM 2014 im eigenen Land folgten 2015 und 2016 zwei unterirdische Auftritte bei der Copa América. In der Qualifikation für die WM 2018 in Russland liegt die Seleção derzeit auf Platz sechs und wäre nach aktuellem Stand erstmals nicht zur Teilnahme berechtigt. Bei Olympia in Rio geht es also auch um das Selbstwertgefühl einer depressiven Fußballnation.

Selbstverständlich ruhen die Hoffnungen vor allem auf Neymar, dem letzten großen Helden Brasiliens. Dessen Arbeitgeber FC Barcelona hat seinen südamerikanischen Spielern nur die Teilnahme an einer der beiden Großveranstaltungen in diesem Sommer erlaubt. Während der argentinische Vereinskollege Lionel Messi (mit überschaubarem Erfolg) an der Copa América teilnahm, entschied sich Neymar für Olympia. Er scheint gespürt zu haben, was seinen Landsleuten wichtiger ist. Zumindest zaghafte Euphorie rief auch die Gruppenauslosung hervor. Brasilien startet am 4. August mit einem Spiel gegen Südafrika ins Turnier. Die weiteren Gegner sind Dänemark und Irak. Da gilt alles andere als ein Gruppensieg als Landesverrat. Dass es auch respektable Fußballmächte wie etwa Deutschland, Portugal oder der Titelverteidiger Mexiko auf die Goldmedaille abgesehen haben, findet weniger Beachtung.

Reflektierte Kommentatoren warnen bereits vor überzogenen Erwartungen. Die Vorbereitung der um Neymar, 24, Bayerns Douglas Costa, 25, sowie um den Torwart Fernando Prass, 37, von Palmeiras ergänzten U23-Auswahl läuft, gelinde gesagt, chaotisch. Ein einziges Testspiel ist eingeplant - gegen Japan. Brasiliens neuer Nationaltrainer Tite hat seinen Job vor drei Wochen nur unter der Bedingung angenommen, dass er nicht an Olympia teilnehmen muss. Er fürchtete offenbar, im Falle eines Scheiterns (ab Silber abwärts) als der Coach mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte einzugehen.

Als neulich der Trainer der Olympiaauswahl vorgestellt wurde, mussten auch die meisten Brasilianer erst einmal googeln. Rogério Micale heißt der Mann. Einen großen Klub hat er noch nie trainiert. Aber vielleicht ist das sogar ein Zeichen des Fortschrittes. Micale, 47, wurde nicht wegen seiner Meriten berufen, sondern wegen seiner Philosophie. Er steht für den in Brasilien zuletzt sträflich vernachlässigten modernen Kombinationsfußball und gilt unter Experten als vorzüglicher Nachwuchstrainer. In seiner Antrittsrede plädierte er für ein gesundes Mittelmaß aus Konzeptkunst und individuellem Talent. "Organisiertes Chaos", nannte er das.

Zu den Talenten, die es auf den olympischen Rasenflächen zu organisieren gilt, gehört neben Neymar gewiss auch Gabriel Jesus. Der 19-jährige Angreifer von Palmeiras führt die Torschützenliste der brasilianischen Liga an. Topklubs aus aller Welt sind angeblich hinter ihm her. Der talentierte Mann auf Platz zwei der Torjägerliste kann altersbedingt leider nicht an den Spielen teilnehmen. Er ist 37, war mal beim VfL Wolfsburg aktiv und heißt Grafite.

© SZ vom 08.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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