Oliver Kahn:Ein Griff ins Leere

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Siege sind Routine in seiner Fußballer-Karriere, aus Niederlagen wollte er stets neue Kraft ziehen - doch dafür werden die Räume nun eng.

Holger Gertz

Der Sozialwissenschaftler und Publizist Jan Philipp Reemtsma hat einmal beschrieben, was es bedeutet, zu verlieren: "Niederlagen sind unerträglich. Wer mit einem Geschäft bankrott macht, wessen Fuß an der Latte hängenbleibt, wer auf der Bühne ausgepfiffen wird, wer aus dem Ring geprügelt wird, wem die Frau ausgespannt wird - die alle möchten brüllen vor Schmerz. Sie halten es nicht aus."

Oliver Kahn, der Unterlegene. (Foto: Foto: AP)

Man hat nicht viel gesehen und gehört von Oliver Kahn am Freitagnachmittag, aber es fällt einem nicht schwer, sich sein Inneres vorzustellen. Wer so aus dem Kasten verdrängt wird, will bestimmt auch brüllen vor Schmerz.

Dabei ist eigentlich nichts Weltbewegendes passiert. Ein Bundestrainer hat sich entschieden, bei der Weltmeisterschaft den Torwart Lehmann einzusetzen und nicht den Torwart Kahn. Die Entscheidung hatte sich länger angedeutet, sie ist - sportlich gesehen - nicht einmal besonders überraschend. Jens Lehmann hat verdammt gut gehalten, nicht nur in den vergangenen Wochen.

Andererseits: Was bewegt die Welt mehr als der Fußball, wenige Tage vor der Weltmeisterschaft, die in Deutschland stattfindet? Und deren Eröffnungsspiel in München angepfiffen wird, wo Kahn seit Jahren spielt. Nein, es ist wie immer in der Karriere des Torwarts Oliver Kahn: Alles ist größer als bei anderen Fußballern. Er hat nie einfach nur trainiert wie die anderen, er hat wie ein Besessener trainiert.

"Totale Leere, totale Demotivation, totale Ziellosigkeit"

Er ist nicht einfach ein Torwart, er ist ein Titan - jedenfalls haben die Reporter ihn so genannt, und ein bisschen übernimmt man bestimmt immer von dem, was andere von einem halten. Er ist nicht einfach kaputt gewesen und enttäuscht nach schweren Niederlagen wie der in der Champions League gegen Manchester, zwei Tore in der Nachspielzeit. Er hat selbst im Tagesspiegel beschrieben, wie er sich danach fühlte: "Totale Leere, totale Demotivation, totale Ziellosigkeit, totale Kraftlosigkeit."

Es klang nach Sartre, "Das Sein und das Nichts", Betonung auf Nichts. Aber da hatte er noch ein paar Jahre vor sich und konnte das ausmerzen, zwei Jahre später gewann er mit den Bayern die verdammte Champions League, und die Albträume waren endlich vertrieben. Im Finale gegen Valencia hielt er drei Elfmeter.

Die Niederlage vom Freitag, herbeigeführt durch die Entscheidung des Trainers Klinsmann, erlitten im Duell mit dem Rivalen Lehmann, wird sich nicht mehr drehen lassen. Oliver Kahn ist 36, noch eine WM wird er kaum spielen. Und die nächste WM in Deutschland wird bestimmt erst in hundert Jahren sein.

Ein Fußballer muss eine Menge verarbeiten in seinem Fußballerleben, ein Torwart sowieso. Tore in der Nachspielzeit, lächerliche Fehler, im Moment des Scheiterns schaut alles auf ihn. Die Fallhöhe gibt dem Spiel seinen Kick, und um die Fallhöhe in diesem Moment einigermaßen zu begreifen, muss man vier Jahre zurückblenden, WM in Japan und Südkorea. Viele Experten sagen, bei diesem Turnier hat eine deutsche Mannschaft gespielt, die im Wesentlichen aus einem Mann bestand. Das Team hieß Kahn.

Oliver Kahn, der Unvollendete

Er hielt wie ein Teufel, und auch wenn im Spiel gegen die Amerikaner einmal Torsten Frings auf der Linie stand und rettete, unerlaubterweise mit der Hand: Es war Kahns WM. Er hielt, was kaum einer halten konnte, und zwischendurch, in den Pressegesprächen und bei den Trainingseinheiten, durfte man einen Mann beobachten, der imstande war, sein Umfeld positiv zu beeinflussen.

Es wirkte fast wie Voodoo-Zauberei, wenn er Vorhersagen machte für die folgenden Spiele, und alle wurden wahr. Fast alle. Kahn, vor der WM: "Wir können für eine große Überraschung sorgen." Kahn nach dem Sieg gegen Paraguay: "Jetzt ist sehr viel möglich. Ich rede das nicht nur so in den Wind. Ich bin davon überzeugt, dass man mit dieser Mannschaft auch ins Finale kommen kann." Kahn, nach dem Gewürge gegen die USA: "In zwei Tagen fragt kein Mensch mehr danach. Entscheidend ist, dass wir im Halbfinale stehen."

Kahn, vor dem Halbfinale gegen Südkorea, der Stimmung im Stadion trotzend: "Wir sind auf unser Ziel fokussiert, ins Finale vorzustoßen." Kahn vor dem Finale: "Mein Gefühl sagt mir, dass wir Weltmeister werden. Warum, kann ich nicht erklären."

Sie sind es dann nicht geworden. Kahn ließ einen Ball abprallen gegen die Brasilianer im Finale, Ronaldo kickte ihn ins Tor. Als alles vorbei war, hockte der Torwart an einem Pfosten und blickte irgendwohin, wie er immer an den Reportern vorbeiblickt, wenn die ihn etwas fragen. Kein Augenkontakt, mit niemandem. Oliver Kahn, der Unvollendete, hat oft versucht, sich in sich selbst einzusperren, und manchmal konnte einen das richtig nerven, weil es wie Posen aussah, wie die Gestik eines Mannes, der auch im Alter noch krampfhaft so cool wirken will wie ein Rapper aus diesen Musikvideos.

Nach dem Finale gegen Brasilien sah er nur aus wie ein trauriger Mann, ein Handtuch über den Rücken gelegt, wo er sich lieber mit einer Decke vollständig verhüllt hätte. Man konnte Mitleid mit ihm haben, aber er wusste es in diesem Moment, und die anderen wussten es auch: 2006 würde die Chance zur Wiedergutmachung da sein.

Die Chance ist jetzt nicht mehr da, dabei war sie immer eine Triebkraft für ihn. Etwas besser machen, auf den zweiten Versuch warten. Bevor er 2002 zu dem Torwart wurde, den alle Welt kennt, hatte er bei großen Turnieren dreimal auf der Bank sitzen müssen, das erste Mal 1994 in den USA.

So wie es jetzt aussieht, wird Oliver Kahn am Ende seiner Karriere nur sieben Spiele bei einer WM bestritten haben, man kann sich das gar nicht vorstellen, weil es so wirkt, als hätte er schon immer und ewig auf das deutsche Tor aufgepasst, als hätte er jeden und alle verdrängt, wie damals, am Anfang der Karriere: Alexander Famulla hieß der Keeper beim Karlsruher SC, er war acht Jahre älter als Kahn und spürte vom ersten Moment diesen Willen beim Konkurrenten. Famulla wollte nicht mit Kahn im Trainingslager auf einem Zimmer schlafen.

Vielleicht gibt es zwei Oliver Kahns

Er hatte Angst, Kahn würde ihm nachts ein Kissen ins Gesicht drücken. Die Geschichte mit dem Kissen passt zu einer anderen, als Kahn, der junge Kahn, bei einer Benefizveranstaltung im Kasten stand. Kinder durften gegen ihn antreten, für jeden Treffer war Geld ausgesetzt für einen guten Zweck, aber Kahn hechtete den Bällen hinterher wie in einem richtigen Spiel, und die Kinder fingen beinahe an zu weinen.

Vielleicht gibt es zwei Oliver Kahns. Den einen, den man kennt aus dem Stadion - und der bei den gegnerischen Fans verhasst ist wie kein zweiter Fußballer. Den arrogant schauenden Torwart, der die Stürmer an den Haaren zieht, ihnen in den Hals beißt, ihnen den Finger in die Nase zu schieben droht. Einen Wahnsinnigen, vom Ehrgeiz zerfressen. Jahrelang haben ihm die Fans Bananen in den Strafraum geworfen und Gorilla-Geräusche gemacht, wenn er erschien. Er hat die Bananen jahrelang aus dem Strafraum geworfen, wie ein Arbeiter am Obstmarkt, der morgens verfaulte Früchte in den Mülleimer schleudert.

Er hat gesagt, dass er den Druck braucht, er hat davon gesprochen, gern "im Adrenalin zu baden", und manchmal klang es einen Tick zu martialisch - als packe einer zu viel Druck auf seine Seele. Der andere Oliver Kahn gehört eindeutig zu den intelligenteren Fußballern, der psychologische Bücher mit ins Trainingslager nimmt und sich artikulieren kann wie der Manager eines großen Unternehmens.

Die Sonnenbrille und das lässige Kaugummikauen passte immer mehr zu einem Dauerpubertisten wie Stefan Effenberg. Bei Kahn war und ist es Bestandteil eines Abschottungsprogramms, eine Maske, die er nur ganz selten vom Gesicht nimmt.

Kahn auf der Bank? Man kann es sich kaum vorstellen

"Sind Sie auch mal grundlos glücklich, einfach so?", fragte in dem erwähnten Interview der Reporter. "Da bin ich auf der Suche", antwortete Kahn, und man konnte fast ein etwas hilfloses Lächeln herauslesen.

Auf der Suche sein ist ein erträglicherer Zustand als vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Lehmann wird bei der WM spielen, und Kahn hat noch nicht erklärt, ob er sich auf die Bank setzen wird. So war es schließlich nicht geplant. Er spielt doch in dieser Saison in einem Trikot, das aussieht wie jenes von Sepp Maier bei der WM 74.

Vergangenheit und Zukunft sollten sich treffen in einem blauen Torwartpulli. Kahn auf der Bank? Man kann es sich im Moment kaum vorstellen, und jetzt als Journalist zu fordern, er solle die Niederlage sportlich nehmen, klingt zu einfach.

Es ist zwar nur der Wechsel eines Torwarts, die große Wirkung des Themas hängt auch zusammen mit dem hoffnungslos überhitzten Business. Aber, ohne das Ganze wie einen Nachruf klingen zu lassen: Es ist auch eine gewisse Tragödie für einen Mann, der doch ein bisschen mehr ist als ein Fußball-Nationalspieler.

Oliver Kahn wird weitermachen, am Samstag spielen die Bayern in Bremen, beim Rivalen, und es wird interessant sein zu sehen, ob die Bremer ihn auspfeifen wie immer. Oder ob sie ihn begrüßen wie einen, der gerade erfahren hat, dass ein Titan in Wahrheit nur ein Mensch ist.

© SZ vom 08.04.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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