Niederlande:Schmerzhafte Nebenwirkungen

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„Gibt Wichtigeres als Sport“: Ajax-Klubchef Edwin van der Sar. (Foto: Eva Plevier/Reuters)

Der nationale Verband muss nach dem Saisonabbruch harte Entscheidungen fällen: Viele Klubs klagen.

Von Christopher Gerards, München

Nur ein Tabellenplatz trennt Willem II Tilburg und den FC Utrecht in der aktuellen Wertung der Eredivisie . Fünfter sind die einen, Sechster die anderen. Nah zusammen - doch in ihrer Meinung zum Vorgehen des niederländischen Fußballverbandes rund um den Saisonabbruch liegen die beiden Klubs weit auseinander. So lobte Tilburgs Geschäftsführer Martin van Geel den Verband dafür, dass er den Richtlinien der Uefa gefolgt sei. Videos zeigten sogar, wie Willem-II-Fans per Autokorso feierten. Frans van Seumeren, der Besitzer des FC Utrecht, dagegen drohte im niederländischen Fernsehen mit rechtlichen Schritten gegen die Entscheidung.

Tilburg, das zur Einordnung, hatte am Freitag erfahren, dass der Klub gemäß Tabellenstand bei Abbruch in der nächsten Saison in der Europa-League-Qualifikation antreten darf. Der FC Utrecht hatte erfahren, dass es für den internationalen Wettbewerb nicht reicht.

Die Saison in den Niederlanden ist also vorbei, abgebrochen nach 26 Spieltagen. Der niederländische Verband KNVB reagierte damit auf den Beschluss der Regierung, dass bis 1. September keine Großveranstaltungen stattfinden dürfen. Somit ist die Eredivisie die erste größere Liga, in der wegen der Corona-Pandemie offiziell Schluss ist. Doch das vorzeitige Saisonende brachte auch mit sich, dass der Verband Entscheidungen treffen musste, die sich am Ende einer normalen Saison von selbst ergeben: Wer wird Meister? Wer spielt international? Wer steigt ab, wer steigt auf?

Dass jede mögliche Entscheidung irgendjemandem "irgendwo wehtun würde" - das räumte der Verband in seinem Statement selbst ein. Seine Beschlüsse fielen letztlich so aus: Ein Meister wird in dieser Saison nicht gekürt. Wer international spielt, bestimmt allein die derzeitige Tabelle - denn dies stimme überein mit den Richtlinien der Uefa, wonach die Europapokalteilnehmer im Falle eines Abbruchs auf der Grundlage des "sportlichen Erfolgs" bestimmt werden sollen. Auf- und Absteiger? Gibt es 2020 nicht! Und auch das Pokalfinale fällt ersatzlos aus.

Zudem schrieb der KNVB, es sei die moralische Verpflichtung der Europapokal-Teilnehmer, einen Teil ihres Startgeldes den Organisationen des bezahlten Fußballs zur Umverteilung bereitzustellen. Kritik an den Entscheidungen folgte unverzüglich: Sie betrifft vor allem die Vergabe der Europapokal-Plätze und die Regelung zu Auf- und Abstieg. Zudem wird dem Verband vorgeworfen, er habe bei den verschiedenen Beschlüssen unterschiedliche Maßstäbe angelegt.

Zu den hart getroffenen Vereinen zählt der Tabellensechste Utrecht - und zwar doppelt: Utrecht hatte das (abgesagte) Pokalfinale gegen Feyenoord Rotterdam erreicht, hätte sich also auch dort ein Europa-League-Ticket erspielen können. Und in der Liga verfehlt man die Europa League um nur einen Platz - wobei entscheidend für den Ärger ist, dass Utrecht mit einem absolvierten Spiel weniger Sechster ist und bei einem Sieg im Nachholspiel (allerdings gegen Tabellenführer Ajax Amsterdam) den Fünften Willem II hätte überholen können. Und das hätte dann für die Qualifikation zur Europa League gereicht. So jedoch spielen nun die ersten Fünf der windschiefen Abschlusstabelle international: Ajax, AZ Alkmaar, Feyenoord Rotterdam, PSV Eindhoven und Willem II.

Utrecht bleibt außen vor, ist aber angesichts des Saisonverlaufs der Auffassung, dass man ein Europapokal-Ticket verdient gehabt hätte. Es sei "inakzeptabel", dass das Erreichen des Pokalfinales bei der Abwägung zur Vergabe der Europa-League-Tickets vom Verband unberücksichtigt blieb, hieß es in einer Mitteilung. Utrechts Mehrheitsaktionär Frans van Seumeren will "die besten Rechtsanwälte des Landes" für Gegenklagen engagieren.

Auch der Tabellenzweite AZ Alkmaar ist laut Geschäftsführer Robert Eenhoor "nicht einverstanden" mit der Art, wie die Tickets für die Champions League verteilt wurden. Alkmaar ist punktgleich mit dem Ersten Amsterdam. Und auch wenn Ajax dafür keinen Meistertitel erhält, hat der nur durchs Torverhältnis definierte Tabellenstand Folgen: Ajax wird in der Qualifikation zur Champions League auf eins gesetzt und darf auf das direkte Erreichen der Gruppenphase hoffen - Alkmaar dagegen muss in einer frühen Phase der Qualifikation zur Königsklasse ran.

Ajax Amsterdam zeigte sich trotz des verwehrten Titels gegenüber dem KNVB verständnisvoll: "Als Spieler und Klub willst du natürlich immer Meister werden", sagte Geschäftsführer Edwin van der Sar. Allerdings gebe es im Moment wichtigere Dinge als Fußball.

Emotionale Wortmeldungen zogen dagegen die Regelungen zu Auf- und Abstieg nach sich. Der Verband hatte hier ursprünglich drei Wege zur Wahl: Nicht umgesetzt wurde Option eins, dass es nur Auf-, aber keine Absteiger gibt, womit die Eredivisie in der kommenden Saison auf 20 Teams gewachsen und eine Mehrbelastung für Klubs, Gemeinden und Polizei entstanden wäre. Unter den Klubs gab es eine Mehrheit für eine zweite Option: Bei einer Befragung stimmten 16 Vereine für eine Regelung mit Auf- und Absteigern gemäß der Abbruchtabellen (neun dagegen, neun enthielten sich). Der Verband nahm dieses 16:9-Verhältnis aber nicht als "deutliche Präferenz" wahr - und entschied selbst, dass es weder Auf- noch Absteiger gibt.

Begründung: Zu viele Spieltage wären noch zu absolvieren gewesen, als dass man sich jetzt auf Auf- und Absteiger festlegen könnte. Damit war hier die Abbruchtabelle kein Kriterium - ganz im Gegensatz zur Vergabe der Europacup-Tickets. Die Zeitung NRC nannte daher das Vorgehen des KNVB "nicht konsequent und diffus".

Am Tabellenende der ersten Liga profitieren die beiden Schlusslichter, ADO Den Haag bleibt der Abstieg ebenso erspart wie dem RKC Waalwijk, der als Tabellenletzter bereits elf Punkte Rückstand zu einem rettenden Platz hatte. Verprellt fühlen sich die Spitzenteams der zweiten Liga, Cambuur Leeuwarden und De Graafschap Doetinchem, denen der Aufstieg verwehrt bleibt: "Das fühlt sich an wie die größte Schande jemals im niederländischen Sport", polterte Cambuur-Coach Henk de Jong beim Sender NOS. Geschäftsführer Ard de Graaf sagte zum unterschiedlichen Prozedere bei Europacup sowie Auf-und Abstieg: "Hier wird mit zweierlei Maß gemessen."

Enttäuscht äußerte sich auch der Geschäftsführer der zweiten Liga, Marc Boele: "Es fühlt sich so an, als würden wir nicht ganz ernst genommen werden - als ob wir eine Art abgewerteter Wettbewerb sind. Das ist bitter."

© SZ vom 27.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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