Nicolas Kiefer:Ein ganzes Leben in fünf Sätzen

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Er rannte, kämpfte, fluchte und litt: Gegen Sebastien Grosjean musste Nicolas Kiefer in knapp fünf Stunden seine komplette Karriere durchleben. Am Ende hatte er gewonnen.

Jürgen Schmieder

Nach dem Spiel musste es einfach raus: Nicolas Kiefer stand auf dem Platz der Rod-Laver-Arena und schrie: "Jaaaaa!" Fast fünf Stunden lang hatte er gerade gegen Sebastien Grosjean gekämpft, gegen die mörderische Hitze, gegen Schmerzen im Knöchel. Er hatte gewonnen: 6:3, 0:6, 6:4, 6:7 (1:7), 8:6 stand da auf der Anzeigetafel. Der Beweis, dass Kiefer gerade den größten Erfolg seiner Karriere feiern konnte. Er steht im Halbfinale der Australian Open.

Die Emotionen zulassen, sich aber nicht kontrollieren lassen: Nicolas Kiefer. (Foto: Foto: AP)

Dabei musste der Hannoveraner in den fünf Stunden Spielzeit seine komplette Karriere im Schnelldurchgang durchleben. Eine Achterbahnfahrt mit extremen Höhen und Tiefen, wie sie viele Sportler erleben müssen. Doch nur wenige stehen am Ende als Sieger da.

Den ersten Satz dominierte Kiefer. Ihm gelang ein schnelles Break und Sebastien Grosjean hatte eher mit seinen eigenen Fehlern zu tun, als dass er sich ernsthaft gegen Kiefer wehren konnte. Es war wie 1997, als Nicolas Kiefer seine Karriere auf der ATP-Tour begann. Schnell stieg er zur deutschen Tennishoffnung auf, die nach den Abgängen von Boris Becker und Steffi Graf nach einem Helden lechzte.

Ein Spiel wie eine Karriere

Dann der gnadenlose Abstieg. Grosjean fand plötzlich zu seinem Spiel und demütigte Kiefer im zweiten Satz mit 6:0. Da stand plötzlich wieder ein Kiefer auf dem Platz, wie er im Gedächtnis vieler Tennisfans verankert ist: Mit sich selbst hadernd, auf den Schiedrichter schimpfend, unkonzentriert über den Platz schlurfend. Man fühlte sich erinnert an eine Zeit, als Kiefer aus der Weltrangliste gefallen war und in regionalen Tennishallen kleine Turniere spielen musste. Die Sportseiten schrieben damals Abgesänge auf das ewige Talent, auf das Nervenbündel.

Nicht 2006: Kiefer ist reifer geworden, ein neuer Spieler. An seinem Fuß ist das Tape deutlich zu erkennen, Kiefer hat Schmerzen. Vor Jahren hätte er vielleicht aufgegeben und wäre nach Hause gefahren. Es gehört zum neuen Nicolas Kiefer, Emotionen und Schmerzen zwar zuzulassen, sich jedoch nicht von ihnen kontrollieren zu lassen.

Das dramatischte Spiel der Australian Open 2006

Das 0:6 beeindruckte Kiefer nur wenig, schnell schaffte er zwei Breaks und brachte den dritten Satz nach Hause. Alles schien wieder im Plan zu laufen. Doch der Franzose ließ nicht locker und erkämpfte sich den vierten Satz im Tie Break mit 7:1.

Was sich dann auf dem Center Court abspielte, wird wohl in die Geschichte der Australian Open als eines der dramatischten Spiele aller Zeiten eingehen. Grosjean und Kiefer mussten in der australischen Hitz nicht nur an ihre körperlichen Grenzen gehen, auch ihre Psyche und Leidensfähigkeit wurde auf eine harte Probe gestellt.

Grosjean konnte Kiefer gleich im ersten Spiel den Aufschlag abnehmen. Es dauerte bis zu Spiel vier, als Kiefer wieder ausgleichen konnte. Grosjean quittierte diesen Aufschlagverlust mit einem lauten Stöhnen, das die Zuschauer in der ausverkauften Arena erschrecken ließ.

Kiefer musste drei Spiele später sein Aufschlagsspiel wieder abgeben, es stand 4:3 für Grosjean, der hatte auch noch Aufschlag. Doch Kiefer schlug sofort zurück und glich erneut aus.

Die Anspannung beider Spieler kulminierte im zwölften Spiel des fünften Satzes, nach 4:30 Stunden Spielzeit. Kiefer verlor die Kontrolle über sein Spielgerät, das über das Netz auf die andere Seite flog. Grosjeans Vorhand landete im Aus und beide Spieler protestierten heftig mit dem Schiedsrichter, wem der Punkt zugesprochen sollte. Es war klar: Grosjean und Kiefer waren angeschlagen, der nervlich stärkere würde an diesem Tag als Sieger vom Platz gehen.

Keine Angst vor Federer

Das war Nicolas Kiefer. Der so oft an seiner Psyche scheiterte, gewann an diesem Mittwoch Abend aufgrund seiner Nervenstärke. Er behielt die Ruhe und verwandelte nach fast fünf Stunden seinen zweiten Matchball zum 8:6.

Vollkommen ausgelaugt schleppte sich Kiefer in die Katakomben. "Es war ein Fight - brutal. Auf dem Platz waren es bestimmt 45 Grad. Mein ganzer Körper hat geglüht - vom Fuß bis zur Schulter", schrieb er auf seiner Homepage. "Egal, ich habe es geschafft. Ich bin im Halbfinale"

Es stand ein neuer Nicolas Kiefer auf dem Platz. Einer, der sich von Krisen und kleinen Rückschlägen nicht entmutigen lässt. Der weiterkämpft und am Ende siegt.

Einem Kiefer in dieser Form muss auch vor dem Weltranglistenersten Roger Federer im Halbfinale nicht bange sein.

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