Michael Uhrmann:Der Wert der Geduld

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Eine Verwandlung ist vollzogen: Michael Uhrmann kommt als einer der Favoriten zur Vierschanzentournee.

Thomas Hahn

Michael Uhrmann mag es, wenn die anderen eine Bedrohung in ihm sehen, und deshalb erzählt er nun mit Genuss jene Geschichte, die sich neulich beim Weltcup in Lillehammer zutrug: Es war vor dem Wettkampf, und er hatte ein Problem. An seinem Startnummern-Leibchen war ein Gummi ausgerissen, und ein Betreuer musste seine ganze Improvisationskunst aufbieten, um den Stoff wieder zu befestigen. Das entging den anderen Skispringern nicht, und wenig später reklamierten die Finnen, dieser Uhrmann versuche sich einen Vorteil zu verschaffen, indem er an seiner Nummer herummanipuliere. Der Einwand war lächerlich, aber irgendwie fand Uhrmann ihn auch schön. Er sagt: "Solche Dinge würden nicht auffallen, wenn sie nicht ein bisschen Angst hätten."

Flieg, Michael, flieg: Uhrmann gehört zu den Favoriten bei der Vierschanzentournee. (Foto: Foto:)

Man kann aus dieser Episode zweierlei lernen: Erstens dass ein gehöriges Misstrauen herrscht im Zirkel der weltbesten Skispringer. Zweitens dass Michael Uhrmann, 27, endgültig nicht mehr der brave, Anschluss suchende Mitspringer ist, der er einmal war. Den Argwohn seiner Gegner muss man sich schließlich erst verdienen, und das hat Uhrmann in dieser Saison getan als Vierter des Gesamtweltcups und regelmäßiger Gast auf dem Siegerpodest. Bei der Vierschanzentournee, die am 28. Dezember mit der Qualifikation am Oberstdorfer Schattenberg beginnt, zählt er zu den Favoriten. Es geht einem noch etwas schwer über die Zunge, aber in der Tat ist Uhrmann der erste Deutsche seit Sven Hannawald, der die Tournee gewinnen könnte. Sein Manager Gerd Siegmund spricht von der "Form seines Lebens" und empfiehlt: "Da sollte man sich schon mit so was beschäftigen." Bundestrainer Peter Rohwein sagt dem Sportinformationsdienst: "Er ist sicher reif für einen Sieg." Und Uhrmann selbst findet: "Ich bin Vierter im Gesamtweltcup, da brauche ich nicht in Jubel zu schwelgen, aber ich brauche die Leistung auch nicht klein zu reden."

Es hat ein bisschen gedauert bis zu dieser Verwandlung. Die Karriere des Michael Uhrmann ist ein Sinnbild für den Wert der Geduld im Sport, und sie weist die schlimmsten Rückschläge dort auf, wo sie am nützlichsten sind: am Anfang. Uhrmann war schon drei Mal Junioren-Weltmeister, als er 1997 in Oberhof schwer stürzte und anschließend den Kopf lange Zeit nicht frei bekam.

Nicht mal im Steilhang

Es gibt kaum eine Erfahrung, die Uhrmann noch nicht gemacht hat. Er kennt die Ängste eines Springers, die Position des Sekundanten hinter dem Starduo Martin Schmitt/Sven Hannawald, die Tiefen des Betriebs. Er weiß auch, wie es ist, als nützlicher Clown des Skisprungzirkus auf dem Vorbau zu landen; 1998 bei der Skiflug-WM in Oberstdorf war er Vorspringer und hatte Mühe, als er mit dem Anlauf der Elite auskommen musste: "Ich kam nicht mal in den Steilhang."

Michael Uhrmann sagt: "Ich glaube, dass ich anders an die Sache herangehe als jemand, der den Weg steil von oben nach unten durchgeht. Für mich hat das Skispringen an sich einen großen Wert." Und so hat er bald, nachdem das große Tief zu Beginn seiner Karriere überwunden war, angefangen, die Erträge seiner Arbeit zu genießen: Weltmeister mit der Mannschaft 2001 in Lahti, Olympiasieger mit der Mannschaft 2002 in Salt Lake City. Im Winter darauf fiel er erstmals als Einzelspringer auf, als er einen fulminanten Start in die Saison hinlegte, ein gutes Jahr später überspielte er beim Tournee-Auftakt in Oberstdorf elegant die Schwächen seiner prominenteren Teamkollegen als Vierter, wieder ein paar Wochen später überwand er zum ersten Mal die Nervosität, die ihn so oft gehemmt hatte, und gewann das Weltcup-Springen von Zakopane.

Zweimal hat der Bundestrainer gewechselt seit 2003, es gab internen Streit, Turbulenzen um Hannawald, der erst seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde, dann bis zu seinem Rücktritt in diesem Sommer eine Art Halbexistenz im Team fristete als Schlagzeilen trächtiges Burn-Out-Opfer. Uhrmann aber ist in dem ganzen Theater immer eine der wenigen Konstanten gewesen. Doch der ganz große Erfolg blieb aus, seine Entwicklung im Gesamtweltcup zeigt, dass er letztlich nie über gehobenes Mittelmaß hinauskam: Platz 28 2002, 15 2003, 14 2004, neun 2005 - und jetzt?

Seine Sprünge wirken selbstverständlicher als sonst, und er selbst ist so ruhig und unaufdringlich selbstbewusst, als könne ihm derzeit kein Sturm und keine überzogene Erwartung etwas anhaben. Das vergangene Jahr stand für ihn im Zeichen umfassender Renovierungsarbeiten an seiner Technik. Die neue BMI-Regel, die ein Mindestgewicht nach dem Body-Mass-Index regelt, machte ihm zu schaffen, weil er von Natur aus leicht ist. Er musste vier Kilo zunehmen, verschärfte dazu sein Athletik-Training, um mit mehr Oberschenkelmuskeln seine Anfahrtshocke tiefer setzen zu können und sprungkräftiger zu werden. Es war nicht einfach, sich an den neuen Körper zu gewöhnen, aber es gelang, und Uhrmann sagt: "In diesem Jahr bin ich im Frühjahr ganz anders eingestiegen."

Mit professioneller Hingabe hat er die letzten Materialtests und Krafteinheiten vor der Tournee hinter sich gebracht, Weihnachten bei der Familie verbracht und blickt nun gespannt voraus. Michael Uhrmann fühlt sich wohl in seiner Rolle als bester deutscher Skispringer. Er hat nie darum gebeten, im Mittelpunkt zu stehen, aber er hat auch nichts dagegen, und mit freundlichem Humor erzählt er die seltsamen Geschichten, die seine Popularität bisweilen hervorbringt.

Dem Sieger eine Straße

Zum Beispiel jene von seiner Straße in Breitenberg, seiner Heimatgemeinde mit 800 Einwohnern. 2003 entschied der Gemeinderat, eine neue Erschließungsstraße nach ihrem Olympiasieger zu benennen. Michael Uhrmann stimmte zu, allerdings wusste er nicht, dass es um die Straße ging, an der er sich und seiner Freundin ein Haus bauen wollte. So kam es, dass Michael Uhrmann heute in der Michael-Uhrmann-Straße wohnt, was er "gewöhnungsbedürftig" findet. Michael Uhrmann sagt: "Es ist nicht so, dass ich sag': Hurra, ich hab' jetzt 'ne eigene Straße." Es sieht sogar so aus, als wäre es ihm ein bisschen peinlich.

© SZ vom 27.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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