Michael Ballack:Obwohl die Wade nein sagt

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Michael Ballack, die Leidensfigur des deutschen Spiels, leitet sein Team taumelnd zum Sieg.

Christof Kneer

Es ist kein Tor gefallen in der ersten Spielminute, auch die zweite Minute blieb torlos, und nach der dritten stand es immer noch 0:0. Das ist nicht unüblich für ein WM-Viertelfinale, welches sich bis auf 120 Minuten ausdehnen kann.

Schmerzhafter Auftritt: Michael Ballack am Boden. (Foto: Foto: dpa)

Auch nach zehn Minuten leuchtete noch keinerlei Treffer von der Anzeigetafel, und in diesem Fall war das fast schon eine kleine Sensation: Hey, hier spielte Klinsmanns Deutschland, jene Elf, die sich in den letzten Wochen ein Patent auf das frühe Tor gesichert hatte.

Am Ende aber hatte die Anzeigetafel durchaus etwas zu vermelden: Nach 90 Minuten ein 1:1, hergestellt durch die Kopfballtore von Argentiniens Abwehrchef Roberto Ayala (49.) und Miroslav Klose (80.). Und was folgte, ist das, wonach sich die Fans sehnen. Nach den Klassikern, nach Spielen über die noch in Jahrzehnten geredet werden kann. Und dazu braucht es bei einer WM eine Verlängerung, ein Elfmeterschießen, die Krönung der Dramen.

Hineingetaumelt

Der Weg dorthin war nicht hochklassig, aber spannend, weil trotz einem chronischen Mangel an Torchancen stets der Wille beider Teams zu erkennen war, nur nicht schon jetzt in Berlin auszuscheiden. Das große Finale hatte sich abgezeichnet, über 120 Minuten hatten sich beide Teams darauf zubewegt, am Ende waren sie hineingetaumelt.

Und es gab eine Symbolfigur für die Strapazen: Es war Michael Ballack, der deutsche Kapitän, der seine Mannschaft lange mit großer Präsenz geleitet hatte und der kurz vor Spielende behandelt wurde, weil die Wade nicht mehr mitmachen wollte.

Ehe Lehmann sich hervortat und den 5:3-Sieg nach Elfmeterschießen festhielt, indem er die Versuche Ayalas und Cambiassos abblockte, hatte Ballack sein Meisterstück mit einem präzisen Schuss vollendet. Neuville hatte den Reigen eröffnet, Cruz souverän ausgeglichen. Dann kam Ballack.

Seine lädierte Wade hielt und nervenstark setzte er den Ball an Franco um 3:2 in die Maschen. Den Rest erledigten Lehmann, Podolski, der rechts unten traf, und der letzte deutsche Schütze des Abends, Tim Borowski. Schon nach wenigen Sekunden dieser Partie war erkennbar gewesen, dass dies der erste echte Test werden würde für den bislang nur von Costa Rica, Polen, Ecuador und Schweden herausgeforderten Gastgeber.

Deutsches Dilemma

Jenen Teams hatten die Deutschen zumeist mit einem frühen Treffer die Lust am Spiel genommen. Sie wollten unbedingt wieder ihr frühes Tor, am liebsten hätten sie es schon vor dem Anpfiff erzielt. Es war eine seltsame Anfangsphase. Es kommt ja selten vor, dass man schon nach drei Sekunden spürt, dass es nach drei Minuten eine gelbe Karte geben wird.

Die gab es dann auch, Podolski hatte Mascherano tiefer gelegt. Überhaupt zeigte sich an Podolski das deutsche Dilemma: So locker wollten sie in diese Partie starten, dass sie dabei ein wenig verkrampften. Die DFB-Elf überzog ihren Tempostart, schon nach 90 Sekunden gab es die erste Rudelbildung.

Erstmals mussten die Deutschen die Erfahrung machen, dass sich eine Eigendynamik nicht herbeibefehlen lässt. So lag eine etwas unnatürliche Stimmung über der ersten Viertelstunde; von den Rängen fühlte sich das manchmal an, als hätten hier zwei Teams schon 97 Minuten gekämpft.

Am Ende durften sich die Deutschen wohl bei den Argentinier bedanken, denen diese Art des Spiels nicht ganz geheuer war. In der 17. Minute hätte Ballack nach einer Schneider-Flanke fast das 1:0 geköpft. Nun drosselten die Argentinier endgültig das Tempo.

Was nur Beckenbauer sah

So kam es, dass die Partie zunächst einen kuriosen Verlauf nahm. Sie hatte sozusagen mit der Schlussoffensive begonnen, worauf übergangslos eine ausgedehnte Abtastphase folgte. Den Deutschen tat das ganz gut, ihnen unterliefen jetzt weniger Flüchtigkeitsfehler.

Selbst Ballack hatte sich im Anfangsgehetze ja der einen oder anderen Schlamperei schuldig gemacht - nun aber stand er so machtvoll im Raum, wie man sich das von einem anständigen Kapitän erwartet. Treu assistierte Frings, der auch Argentiniens Regisseur Riquelme mit seiner Dauerpräsenz nervte.

Fürs Erste erschöpfte sich die Partie nun in solchen Duellen. Nun spielten zwei Mannschaften, die so viel Respekt voreinander hatten, dass sie das Fußballspiel vorerst ein wenig zurückstellten. Franz Beckenbauer hatte bei den Argentiniern vor dem Spiel ein Mittelfeldloch ausmachen wollen. Das war allerdings nicht so leicht zu finden.

Beide Teams lauerten auf Lücken, in die sie aber viel zu selten hineinspielten, weil sie sich vor Fehlpass und Konter fürchteten. Die Argentinier schienen nun leicht im Vorteil zu sein, weil sie Ball und Spiel etwas besser kontrollierten.

Herrliches Taktikvideo

Es hätte ein herrliches Taktikvideo geben können, aber keine vier Minuten nach Wiederanpfiff hatte sich das Spiel erneut geändert. Argentinien ging durch Abwehrchef Ayala (49.) in Führung. Er hatte nach einem Eckball ein Kopfballduell gegen Klose gewonnen, der bis dahin kaum vorgekommen war in diesem Spiel. Das war neu für die Deutschen: Nun lagen sie zurück, nun war Plan B gefragt, und der sah erstmal David Odonkor vor.

Klinsmann brachte seinen Supersprinter, was das Anrennen der Deutschen aber eher hektischer machte. Es fehlte der DFB-Elf am strukturierten Spielzug, weshalb die Einwechslung von Tim Borowski das bessere Signal war. Nicht zufällig war der Bremer gleich am Ausgleich beteiligt: Eine Flanke von Ballack verlängerte er per Kopf zu Klose, der das Hechtsprungduell gegen Sorin für sich entschied und zum 1:1 einköpfte (80.).

Nun nahm die Partie endgültig Fahrt auf, auch die Argentinier interessierten sich wieder für dieses Fußballspiel. Sie hatten zuvor ja schon Riquelme ausgetauscht, offenbar im Bestreben, den Vorsprung über die Zeit zu retten. Jetzt stürmten sie wieder mit, und so entwickelte sich eine prickelnde Schlussphase.

Neuville bringt Schwung

Es ging in die Verlängerung - in jenen kleinen Extrawettbewerb, der die Deutschen dank ihrer Fitnesswerte kaum schreckte. Allerdings konnten sie nun nicht mehr auf Geistesblitze von Klose hoffen, den Klinsmann überraschend - angeblich wegen Krämpfen - gegen Oliver Neuville ausgewechselt hatte. Neuville brachte Fahrt ins Spiel, aber die anderen Darsteller, die schon länger auf dem Rasen standen, taumelten mehr und mehr dem Drama entgegen, das sich vom Elfmeterpunkt aus entscheiden sollte.

Vor allem der Chef hatte Mühe. Michael Ballack musste zeitweise sogar am Spielfeldrand seine müden Muskeln behandeln lassen. Er drängte sich deshalb nicht unbedingt zum Elfmeterschießen auf. Als guter Kapitän nahm er den Auftrag schließlich doch an. Und traf, als sei er nie gehumpelt.

© SZ vom 1.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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