Mexiko:Ewige Verlierer in der Ballnacht

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Mexikos Team hadert mit den Medien, dem Schiedsrichter und mit Gott, verkennt aber Weltliches: seine Harmlosigkeit vor dem Tor.

Thomas Kistner

Wieder kreischten, sangen, jubelten die anderen, diesmal kreiselten die Schals und Fähnlein Argentiniens durch die Nachtluft und deckten das Leipziger Stadionrund mit weißblauen Farben zu. Ricardo La Volpe löste sich erst aus der Schockstarre, als ihm Landsmann Jose Pekerman bedauernd über den Rücken strich.

Trainer Ricardo La Volpe möchte gerne weitermachen - ob man ihn lässt, ist ungewiss (Foto: Foto: dpa)

Mit traurig zuckendem Piratenbart nahm er die Beileidsbekundung des Kollegen entgegen, soeben hatte La Volpe ja Mexikos größten Traum beerdigt: den vom ersten Einzug in ein WM-Viertelfinale seit 1986. Und man kann ihm keineswegs vorwerfen, er habe nicht alles dafür getan - schließlich hing auch sein Job als Nationaltrainer vom Ausgang dieser Partie ab, die seine Auswahl tatsächlich auch über größere Strecken dominiert hatte.

So verkroch sich der Coach erst einmal für eine intime Dreiviertelstunde in den Katakomben, ehe er vor die Presse trat, um mit, sagen wir, leicht belegter Zunge seinen neuen Herzenswunsch zu offenbaren: dass der ausgelaufene Kontrakt verlängert wird. "Ich würde die Arbeit sehr gerne fortsetzen", erklärte er, "die ganze Welt hat jetzt gesehen, dass Mexiko einen erstklassigen Fußball spielen kann."

Das hat sie gesehen. Sehen konnte die Sportwelt aber auch, dass Mexiko nicht imstande ist, die wichtigen Spiele zu entscheiden - gerade, wenn es erstklassig Fußball spielt.

Insofern hat diese Leipziger Ballnacht auch das Image der ewigen Verlierer verfestigt, und den Glauben der Kicker an sich selbst weiter aufgeweicht.

"Ich frage Gott, warum immer die anderen das Quäntchen Glück haben", klagte Stürmer Guillermo Franco, der weiter Katholik bleiben will, "aber es gibt Dinge im Leben, die verstehe ich nicht, und dieses Spiel gehört dazu."

Keine effektive Angriffsformation

Ein paar weltliche Gründe für Mexikos Scheitern waren indes durchaus erkennbar. Der Tri ermangelte es in allen vier Spielen an einer effektiven Angriffsformation, der alternde Torjäger Jared Borgetti verbreitet nur noch im Luftkampf Gefahr, und dies auf beiden Seiten.

Das frühe Führungstor bereitete er per Kopfballverlängerung vor, der Ausgleich zum 1:1 wurde zwar offiziell Hernan Crespo zugeschrieben, ins Netz befördert hatte ihn aber Borgetti selbst.

Diese und andere Szenen füllten eine stattliche Mängelliste, die Borgetti hernach an einen Schweizer Mitwirkenden namens Massimo Bussacca adressierte. "Die individuellen Stärken des Schiedsrichters gaben den Ausschlag, er hat zwei Traumtore geschossen", formulierte der Stürmer mit der Eleganz früherer Tage.

Eine Kritik hatte er dem Referee schon während der Partie gesteckt, nachdem ihm Argentiniens Innenverteidiger Heinze ins Gesicht geschlagen hatte - der wiederum zuvor schon eine ziemlich dunkelgelbe Karte wegen einer Notbremse an Mexikos Stürmer Fonseca gesehen hatte. "Beide Male besaß der Schiedsrichter die Frechheit zu sagen, dass er es gesehen hat, es aber keine Absicht war", schimpfte Borgetti.

Wobei allerdings zu ergänzen ist, dass Sportsfreund Bussacca im Zuge ausgleichender Ungerechtigkeit auch ein Tor von Lionel Messi kurz vor Ende der regulären Spielzeit aberkannte, weil er Argentiniens Jungstar in Abseitsposition wähnte.

La Volpes Problem indes ist das altbekannte: Mexiko Sportjournaille. Die reiste mit enormem Aufwand ins WM-Land, allein Fernsehsender Televisa, dem Weltverband Fifa traditionell eng verbunden, hat ein kleines Medienimperium in München installiert, doch gilt diese Sportpresse in Lateinamerika als eher unverdächtig, mit großer Fachkenntnis zu Werke zu gehen.

Im Falle von Niederlagen wird ungeachtet der Begleitumstände die Feder schnell zum Seziermesser, weshalb La Volpe seit längerem eine herzliche Feindschaft mit den heimischen Medien pflegte, Presseboykott inklusive.

Nun wird ihn all das aus dem Amt drücken, Mexikos Fußball jedoch muss das nicht unbedingt gut tun. Denn neben kleineren (Einbürgerung des Argentiniers Franco und des Brasilianers Zinha) und größeren Verstößen (Nichtberücksichtigung des zuweilen genialischen, öfter launischen Volkshelden Cuauhtemoc Blanco; Nominierung von Schwiegersohn Rafael Garcia für die WM) gegen die sittenstrenge Volksmeinung hatte La Volpe auch ein paar zukunftsweisende Projekte anzukubeln versucht.

Unempfänglich für Neuerungen

Auffällig ist ja, dass 19 der 23 Auserwählten in Mexikos erster Liga spielen, das macht relativ unempfänglich für die Neuerungen im internationalen Fußball. Doch der heimische Markt bleibt geschlossen und die eigene Creme im Lande, die Macht der schwerreichen Fußballbosse ist unumschränkt.

Mit denen hatte sich La Volpe auch angelegt, indem er der Profiliga eine längere Schaffenspause verordnete, er brauchte mehr Zeit für seine WM-Vorbereitung. Zähneknirschend hatten die Vereinsbosse zurückgesteckt, nach dem Auftakt-Sieg gegen Iran musste sich La Volpe gar öffentlich dafür bedanken, was seiner Art sonst eher nicht ist: In Mexiko wird er gern als Prototyp des arroganten Argentiniers karikiert. "Wenn La Volpe gegen seine Landsleute verliert, sind seine Tage definitiv gezählt", hieß es nun vor der Partie im mexikanischen Radio.

La Volpe, Kettenraucher an der Seitenlinie und Trainerrüpel, der Spieler gelegentlich als "dumm" bezeichnet, hat die größte denkbare Schuld auf sich geladen: Er hat nicht geliefert.

© SZ vom 26.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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