Manchmal sieht man Urs Siegenthaler noch beim Training auf der Tribüne sitzen, aber das sind seltene Momente, denn Siegenthaler, 68, hat sich rar gemacht in der Öffentlichkeit. Vor Jahren gab es für Reporter nichts Verheißungsvolleres, als Interviews mit dem Schweizer Chefscout anzufragen, der mit lustigem Akzent lustige Dinge sagen kann. Siegenthaler ist ein alter Weggefährte aus Löws Schweizer Tagen, er galt jahrelang als Taktikflüsterer des Bundestrainers, er nimmt zum Beispiel für sich in Anspruch, Löw vor der WM in Brasilien eine pragmatischere Taktik nahegelegt zu haben. Vieles, was solche Geheimnisträger tun oder lassen, wird Teil einer Legendenbildung, die sich irgendwann verselbstständigt, und am Ende lässt sich nicht mehr überprüfen, wer wann auf wen Einfluss hatte.
Der Siegenthaler möge "bitte morgens liegen bleiben, die anderen zum Training gehen lassen und nicht mit irgendwelchen Ideen kommen", hat der Mehmet Scholl, der TV-Experte der ARD, nach dem Sieg gegen Italien geschimpft, es war ihm erkennbar ein Anliegen. Scholl zählt zur klassischen Fraktion im Land, er sieht sich als Vorkämpfer gegen die sog. "Laptop-Trainer", und offenbar ist Siegenthaler für ihn eine Symbolfigur für diesen verkopften Zugang zum Spiel. "Ich weiß nicht, ob es nur Siegenthaler ist, aber Jogi Löw wacht nicht nachts auf und sagt: ,Dreierkette, Dreierkette, Dreierkette'", lästerte Scholl weiter und schloss die Frage an, warum man "eine Mannschaft, die so funktioniert, in so eine Situation" bringe.
Scholl bezog sich auf Löws Personal- und Taktikwechsel (den offensiven Draxler raus, den defensiven Höwedes rein), den er offenbar als sittenwidrige Anpassung an den Gegner empfand. Scholl: "2008: angepasst und gegen Spanien verloren. 2010: angepasst an die Spanier - rausgeflogen. 2012 angepasst an die Italiener - rausgeflogen. Und jetzt kommt der Clou: 2014 hat Löw der Mannschaft vertraut und ab dem Viertelfinale mit der gleichen Aufstellung gespielt. So gewinnt man Titel."
Es kommt selten vor, dass Löw sein eigenes Werk öffentlich gut findet, aber nach Scholls seltsam giftiger Expertise sah sich Löw doch gezwungen, mit dem Stilmittel des Eigenlobs zu kontern. Die Änderungen seien "dringend notwendig" gewesen, meinte er, man habe die Italiener "mit ihren eigenen Waffen schlagen" wollen - "und mit Intelligenz!"
Für alle, die seine Systemumstellung von Vierer- auf Dreierkette nicht verstanden hatten, erklärte er die Idee so detailliert wie selten: "Die Italiener spielen mit zwei Mann auf den Seiten ganz hoch und dazu mit zwei zentralen Stürmern. Vier gegen vier zu spielen, ist gegen sie gefährlich." Deshalb der Plan, den Italienern mit drei Innenverteidigern zu begegnen. "Wir mussten das Zentrum mit einem Mann mehr zumachen", erläuterte Löw.
Und was das nun mit dem Taktikflüsterer Siegenthaler zu tun hat? "Für mich war der Plan nach dem Spiel Italien gegen Spanien klar", sagte Löw, "da war das mein erster Gedanke."