Leichtathletik WM:Abschied vom Händedruck

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Mit der WM-Premiere 1983 in Helsinki begann die Kommerzialisierung der Leichtathletik.

Michael Gernandt

Schließt der Finne eine Arbeit erfolgreich ab, sagt er Päämääräänsä - ein Wort von verschrobener Schönheit, das so viel bedeutet wie: Das Ziel ist erreicht.

2001 im kenianischen Nairobi während einer Sitzung des Internationalen Leichtathletik-Verbands (IAAF) war es oft zu hören gewesen - nach Helsinkis Sieg bei der Wahl des Weltmeisterschaftsorts 2005. Was die unterlegenen deutschen Bewerber aus Berlin damals von sich gaben, soll hier nicht wiederholt werden, die Reaktion aus IAAF-Kreisen indes kann zitiert werden.

"Hochaltar der Leichtathletik"

"Der Kreis schließt sich", hieß es, als feststand, dass nach der ersten auch die zehnte Ausgabe der WM im Olympiastadion der finnischen Metropole stattfinden soll, dem "Hochaltar der Leichtathletik" (so Primo Nebiolo, der 1999 verstorbene IAAF-Präsident).

22 Jahre sind seit Inbetriebnahme dieses nach Olympischen Spielen und Fußball-Weltmeisterschaft drittgrößten Sportspektakels bis zum diesjährigen Jubiläum vergangen, zwei Jahrzehnte, die den Sport und die Leichtathletik gehörig umgekrempelt haben.

Um nachvollziehen zu können, wodurch die Veränderung ausgelöst wurde, kann ein Blick zurück auf 1983 und die WM I hilfreich sein.

Das Jahr lag zwischen den von den kalten Kriegern der Politik verursachten Boykotten der Olympischen Spiele in Moskau und Los Angeles. Die Effizienz der Streiks war, wie man heute weiß, unerheblich, der Schaden für den Sport kurzzeitig jedoch gewaltig.

Bleibende Auswirkungen, das zeigte sich erstmals 1983, verursachte ein Ereignis aus dem Jahr 1981. In Baden-Baden tanzte damals der Kongress des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) so heftig, dass einer die Anstrengung nicht überstand: der Amateurparagraf.

Und die Ersten, die sich nach der Beerdigung ihrer schwarzen Trauerklamotten entledigten, waren die Leichtathleten. Von 1983 an machten sie Schluss mit Honorarzahlungen unter dem Tisch und erlaubten Preisgelder bei Eintages-Meetings. Die gab es am Anfang nicht bar auf die Sportlerhand, sie wurden auf Treuhandkonten bei den Nationalverbänden deponiert.

Direkt von der gerade gestarteten Kommerzialisierung profitierte dagegen die IAAF selbst. Die Internationale Amateur Athletik Föderation (den Begriff Amateur tilgte der Weltverband erst 2001 aus seinem Kürzel, das seitdem für International Association of Athletics Federations steht) hatte sich 1979 als Letzter der großen Verbände zur Einführung einer Weltmeisterschaft zunächst im Vierjahres-Rhythmus entschlossen (von 1993 an zweijährig) und die erste WM für 1983 nach Helsinki vergeben - ein Beschluss mit Weitsicht.

Die Tage mit Kratochvilova

Die IAAF erkannte schnell die ökonomischen Chancen, die das nach Baden-Baden veränderte Klima bot. Sie entdeckte den Wert des Marketings und ließ eine britische Agentur erstmals die TV-Rechte an der WM in Helsinki veräußern.

In den folgenden Jahren schnürte die IAAF ihre Veranstaltungen zu einem Paket namens World Athletics Series, das die TV-Rechte und die Zahlungen der Sponsoren erheblich verteuerten. Das nährte fortan den Weltverband. Sein Etat schwoll von etwa 250000 Dollar Ende der siebziger Jahre bis heute auf 60 Millionen an.

Am neuen Reichtum hatten die Besten der WM 1983 noch nicht teil. Mehr als ei-nen Händedruck bei der Siegerehrung plus Medaille war für die ersten Weltmeister der Leichtathletik nicht zu holen. Weder der im Finnischen vollzogene internationale Karrierestart von Carl Lewis, 22, Sergei Bubka, 19, und Heike Daute (später Drechsler), 18, wurde entlohnt, noch die Mehrfachsiege von Laufstars wie Marita Koch, Mary Decker und Jarmila Kratochvilova.

Auf Preise mussten die Weltmeister bis 1993 warten: In Stuttgart und danach noch 1995 in Göteborg durften sie mit einem 60.000 Mark teuren Mercedes nach Hause fahren. Bargeld - 60.000 Dollar für den Ersten, 30.000 für den Zweiten, 20.000 für den Dritten - überwies die IAAF erst 1997, von 2001 an auch die Viert- bis Achtplazierten (15.000 Dollar, abwärts gestaffelt bis 4000).

Das erste große Geld, das die IAAF 1983 in Helsinki verdiente, ist nicht nur den Sportlern vorenthalten worden. Auch die Dopingbekämpfung profitierte zunächst nicht vom neuen Reichtum.

Doping war damals noch nicht das beherrschende Thema, erst der Urknall im Jahr 1988, der Fall des kanadischen 100-Meter-Sprinters Ben Johnson bei den Olympischen Spielen in Seoul, rüttelte die Szene wach. Kontrolliert wurde in Helsinki nur stichprobenweise, obligatorische Tests für Medaillengewinner standen noch nicht in den Regeln. Athleten mit extremen Leistungen machten sich gleichwohl auch 1983 schon verdächtig.

Die Tschechoslowakin Jarmila Kratochvilova hatte kurz vor der WM in München die 800 Meter in 1:53,28 Minuten zurückgelegt - das Monstrum ist mittlerweile der älteste gültige Weltrekord - und bei ihren WM-Siegen 1983 Zeiten über 400 Meter (47,99) und 800 Meter (1:54,68) erzielt, die bis jetzt beim Weltchampionat unerreicht sind.

Ihre bundesdeutsche Konkurrentin Gabi Bussmann bezichtigte sie daraufhin öffentlich des Dopings und rief zum Boykott gegen die Frau aus Prag auf. Derlei interessierte damals niemanden.

18 Jahre später startete die Britin Paula Radcliffe bei der achten WM in Edmonton eine ähnliche Aktion gegen die verdächtige russische Langstrecklerin Olga Jegorowa. Auch dieser Protest verhallte ergebnislos.

Viel mag sich in der Leichtathletik seit 1983 verändert haben. Nur den schützenden Händen über den Betrügern scheint die Zeit nichts anhaben zu können.

© SZ vom 6.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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